Zum 100. Geburtstag von Deleuze, eine Einladung…

Jubiläen sind ja so eine Sache. Das Ausrufen eines Jahres als „x“ oder „y‑Jahr“ dient zumeist vor allem als Werbestrategie für Publikationen und Dokumentationen. Ein Denker wie Gilles Deleuze, dessen Geburtstag sich jetzt, am 18. Jänner, zum 100. Mal jährt, war selbst äußerst kritisch gegenüber solchen Arten der Verehrung und Verklärung. Auf das Zuschicken einer der ersten englischsprachigen Einführung in sein Werk Anfang der 1990er soll sich Deleuze in seiner Antwort zwar sehr geehrt, aber gleichzeitig auch etwas besorgt gezeigt haben. So soll er der Autorin zurückgeschrieben haben, dass er keinesfalls will, dass seine Arbeit zu einer Schule verklärt wird, man solle sich nämlich nicht damit aufhalten seine Schriften zu erklären oder zu interpretieren sondern vielmehr neue Arbeiten schaffen. Das war keine falsche Bescheidenheit. Im Gegenteil zu vielen seiner Kolleg*innen und Zeitgenoss*innen hat sich Deleuze nämlich kaum in den Medien geäußert und sich prinzipiell nicht ins Fernsehen gesetzt, er wollte kein weiterer “Star-Intellektueller” werden. Sein einziges gefilmtes Interview, L’Abécédaire, durfte erst nach seinem Tod veröffentlicht werden.

Kein Dogmatismus, keine Strömung also sollen wir aus Deleuze machen, so sein Wunsch, sondern so wie er es auch in seinen Büchern über Hume, Spinoza, Nietzsche, Leibniz, Bergson oder Kant gemacht hat, mit den Arbeiten anderer Denker*innen weiterarbeiten, ganz woanders hinkommen, etwas Neues denken und keine bloße Analyse ihres Werkes vornehmen. Im Zentrum steht also immer die Frage, was kann man mit den Begriffen und Konzepten, was kann man mit den Denkbewegungen verschiedener Philosophien machen und wie kann man damit die eigenen wichtigen oder aktuellen Fragen bearbeiten. Wenn Philosophien uns erlauben aktuelle Fragen oder Probleme zu diskutieren, wenn Begriffe und Konzepte aus deren Werk interessante Perspektiven zu aktuellen Fragen eröffnen, dann erst lohnt sich, so können wir mit Deleuze sagen, diese Auseinandersetzung.

In diesem Sinne ist das Werk von Deleuze und Guattari hoch aktuell (eine Trennung dieser beiden Denker macht für mich, auf Grund der engen Verschränkung ihrer Arbeiten und ihres Denkens, keinen Sinn). Aber nicht, weil sie beschreiben was gerade passiert, oder prophetisch heutige Entwicklungen schon Jahrzehnte früher vorhergesehen hätten. Es ist aktuell, weil es das bietet was Deleuze und Guattari eben als das zentrale Werkzeug der Philosophie verstehen: Eine Vielzahl von Begriffen und Konzepten. Das Deleuze und Guattari weit über die Philosophie hinaus seit Jahrzehnten solch eine starke Rezeption erfahren, hat nicht zuletzt mit dieser Vielzahl an Begriffen zu tun, diesem Potpourri an Konzepten, dieser Einladung sich dieser Begriffe zu bedienen und damit weiterzudenken, die Begriffe in neue Kontexte zu bringen und mit immer neuen Dingen zu verbinden: Rhizom, Minoritär-Werden, Kontrollgesellschaften, Post-Media, Wunschmaschinen, Kriegsmaschinen, abstrakte Maschinen, Gefüge, Begriffsperson, Mannigfaltigkeit, Schizoanalyse … und…und…und … es könnten noch zahlreiche weitere Begriffe genannt werden.

Eine Einladung zum Denken

Es geht in den Auseinandersetzungen mit diesen Begriffen jedoch eben, wie bereits erwähnt, nicht immer darum ob die Begriffe „richtig“ verstanden wurden, nicht um eine dogmatische Exegese ihrer Schriften, nicht um eine Suche nach der einen wahren Bedeutung eines Konzepts. Viele ihrer Texte, allen voran Tausend Plateaus, entziehen sich in der Art und Weise wie sie verfasst und zusammengestellt wurden, sowieso ganz direkt solch einer Systematisierung und Exegese. Ein Begriff ist nicht von selbst interessant, sondern immer für bestimmte Leute in bestimmten Kontexten interessant, nur dann relevant also, wenn er zum Denken anregt, wenn er affiziert und eine Einladung darstellt in neue Zusammenhänge einzutauchen. In den L’Abécédaire berichtet Deleuze, nicht ohne einen gewissen Stolz, dass er nach der Publikation seines Buches zu Leibniz Die Falte Briefe von Surfvereinen und Origami-Begeisterten bekam. Die je spezifischen Erfahrungen, das je spezifische Wissen über Prozesse des Faltens erkannte sich in diesem klassisch philosophiegeschichtlichen Buch wieder, unterschiedlichste Leute erkannten ihre eigene Praxis wieder, verstanden das Buch als Einladung über ihre eigenen Praktiken neu und anders zu denken. Es ist genau diese Offenheit des Werkes die keinesfalls mit Beliebigkeit verwechselt werden darf, die das Werk von Deleuze und Guattari so besonders macht. Deleuze und Guattari sind großzügige Denker, weil sie zahllose Begriffe und Konzepte entwickeln, ohne diese selbst völlig zu vereinnahmen. Die Begriffe sind frei zur Entnahme. Das mag auch problematische Arbeiten, man kann hier an Nick Land denken, hervorbringen, aber die Begriffe sind dabei nicht beliebig, funktionieren nicht in jedem beliebigen Kontext, sie funktionieren mit manchen Maschinen besser und mit anderen gar nicht. Offen aber nicht beliebig.

Es ist auch genau diese Offenheit, die so viele am Werk von Deleuze und Guattari einzuschüchtern oder gar zu stören scheint. Die, die gerne in geschlossenen und ganzheitlichen Systemen denken, die, die immer weiter große Geschichten erzählen, jene, die überzeugt sind für alles immer eine Erklärung parat zu haben und die freudig in jede Kamera ihre Interpretation welcher Ereignisse auch immer erzählen, all jene stören sich an einem philosophischen Projekt, das in erster Linie Stoff zum Selbst- und Weiterdenken gibt, das Begriffe als Werkzeuge, aber keine vorgefertigten Lösungen anbietet. Doch ihr Werk bietet natürlich noch viel mehr als nur eine Reihe an Begriffen. Das Werk ist natürlich in vielerlei Hinsicht höchst spannend und bietet zahllose philosophische Thesen, Referenzen, und Ideen an, die wir hier nicht weiter erwähnen oder diskutieren können. Was wir aber aus und mit ihrem Werk vor allem auch lernen können ist eine Methode, eine bestimmte Art der Philosophie und des Denkens, ein Denken, dass eben vor allem öffnet, anstatt abzuschließen. Keine Welterklärungen im paternalistischen Ton, wie so viele andere Philosophien. Vielleicht ist es auch genau diese Art des Denkens, die Foucault im Sinn hatte als er in seinem berühmten Vorwort zu Anti-Ödipus, die deleuzo-guattarische Philosophie als ein Gegenprojekt zu totalitären Philosophien charakterisierte, ja dieses Buch vor allem als ethisches Handbuch beschrieb, weil es eine „Introduction into a Non-fascist Life“ sei.

Es ist auch Anti-Ödipus, das vielleicht gerade jetzt, in unserer momentanen politischen Situation neu gelesen werden sollte; dessen Begriffe und Konzepte, so bin ich überzeugt, direkt zu unseren aktuellen politischen Herausforderungen sprechen. Wie den Faschismus vermeiden, nicht nur im makropolitischen, sondern noch viel mehr im mikropolitischen? Wie den vielen kleinen Faschismen, die wir auch selbst immer wieder und immer mehr inkorporieren gewahr werden, diese ablegen? So gewinnt eine der zentralen politischen Fragen des Anti-Ödipus gerade angesichts aktueller Entwicklungen weltweit ständig an mehr Brisanz:

Warum kämpfen die Menschen für ihre Knechtschaft, als ginge es um ihr Heil? Was veranlasst einen, zu schreien: Noch mehr Steuern! Noch weniger Brot! Wie Reich sagt, liegt das Erstaunliche nicht darin, dass Leute stehlen, andere streiken, vielmehr darin, dass die Hungernden nicht immer stehlen und die Ausgebeuteten nicht immer streiken. Warum ertragen Menschen seit Jahrhunderten Ausbeutung, Erniedrigung, Sklaverei, und zwar in der Weise, dass sie solches nicht nur für die anderen wollen, sondern auch für sich selbst? […] Nein, die Massen sind nicht getäuscht worden, sie haben den Faschismus in diesem Augenblick und unter diesen Umständen gewünscht. (Anti-Ödipus, S. 39)

Dieser 100. Geburtstag ist also kein Grund Deleuze und Guattari einfach nur zu feiern, sondern sollte vielmehr eine Erinnerung sein, ihr Werk wieder zu lesen, und sich zu fragen welche Begriffe und Konzepte uns ansprechen und nützlich sein könnten. Sollte nichts gefunden werden, es gibt genug andere Philosophien dort draußen. Aber für alle jene von uns, die das Werk von Deleuze und Guattari affiziert, sollten wir mitten in all den Retrospektiven und Feuilleton-Artikeln zu Deleuze, vor allem daran denken, und hier muss ich mich auch selbst kritisieren, nicht bloß in Interpretationen und Erklärungen ihrer Arbeit stecken zu bleiben und unseren Dogmatismus als starre philosophische Schule ausbilden. Wir sollten uns vielmehr daran erinnern, was es eigentlich ist, was uns an ihrem Werk so affiziert, und wie wir mit ihren Konzepten und Begriffen weiterdenken können.

Einige persönliche Bemerkungen

Meine erste Begegnung mit dem Werk von Deleuze und Guattari war während meines Studiums in Wien. So hörte ich das erste Mal von Deleuze in der Vorlesung „Filmästhetik“ von Ludwig Nagl. Ich war beeindruckt davon, wie Deleuze es verstand Filmszenen heranzuziehen und mit diesen zu Denken. Keine Interpretation des Films, keine metaphorische Überhöhung des Films, keine popkulturelle Veranschaulichung anderer Konzepte durch den Film, sondern den Film oder einzelne Szenen tatsächlich als Material des philosophischen Denkens zu benutzen. In einem Vortrag vor Filmstudierenden sagte Deleuze einmal, dass die Aufgabe der Philosophie nicht sein kann, die Praxis anderer Disziplinen zu reflektieren, das könnten die, die diese Praxis ausüben selbst am besten. Philosophie ist z.B. keine Filmtheorie. Aber Philosophie kann und soll andere Arten des Denkens und Arbeitens heranziehen und selbst damit denken. Film als Philosophie.

Meine zweite und entscheidende Begegnung mit dem Werk von Deleuze und Guattari war schließlich die Entdeckung von Tausend Plateaus. Gemeinsam mit einem Freund begannen wir einzelne Kapitel zu lesen und zu diskutieren. Es war mitten in den Monaten von #unibrennt und die Kapitel über das Rhizom und besonders zum Minoritär-Werden haben mir neue Perspektiven auf das eröffnet, was ich während #unibrennt erlebt habe. Es gibt dabei keine Henne-Ei Frage, keine linear-kausale Erklärung, ob es die Erfahrung war, die die Lektüre interessanter und relevanter machte, oder ob die Lektüre die Erfahrung bereicherte. Die Begegnung mit dem Werk und die Erfahrungen in #unibrennt waren ein sich gegenseitig produzierender und gemeinsam entwickelnder Prozess, eine „Involution“ wie wir mit Deleuze und Guattari sagen könnten. So ist es mir mit ihrem Werk noch oft gegangen.

Ich arbeite nun seit vielen Jahren an und mit Deleuze und Guattari, hier am Blog (z.B. zum Begriff der Kontrollgesellschaften oder was es überhaupt bedeutet, „links“ zu sein) aber auch in meiner wissenschaftlichen Arbeit (wie man an meinen Publikationen und vor allem auch an meinem Buch sieht). Nicht immer befolge ich dabei den oben formulierten Aufruf, manchmal tendiere ich selbst zum Erklären und Interpretieren, zum Abschließen von Begriffen anstatt zum Öffnen. Doch das Werk von Deleuze und Guattari lässt sich eben nicht abschließen, es eröffnet vielmehr ständig neue Fragen, neue Linien des Denkens, neue Begriffe und neue Konzepte. Weit über den Tod dieser beiden Denker hinaus entwickelt sich ihr Werk daher ständig weiter, nicht als dogmatische Schule sondern als offene Einladung zum Weiterdenken…

weitere Einladungen

Zum 100. Geburtstag wird natürlich viel publiziert, ich werde hier laufend jene Beiträge verlinken, die ich interessant finde:

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