Rebel Cities – David Harvey. Urbanität und Protest

In seinem neuesten 2012 erschienen Buch „Rebel Cities – From the Rigth to the City to the Urban Revolution“ theoretisiert David Harvey verschiedenste aktuelle Kämpfe sowohl des Kapitals, dessen neoliberale Versuche der Privatisierung und Kommerzialisierung des öffentlichen Raums, als auch emanzipative (anti-kapitalistische) Kämpfe von Cochabamba über Johannesburg bis zu Occupy Wall Street und den Riots auf den Londoner Straßen. Im Zentrum seiner Überlegungen steht die These, dass die Stadt oder genauer die Urbanität nicht nur der Schauplatz all dieser Kämpfe sondern vielmehr selbst der Inhalt dieser Auseinandersetzungen ist. Als marxistischer Theoretiker geht es ihm darum aufzuzeigen, inwiefern der Kampf um die Deutungshoheit und Verwaltung des öffentlichen Raums, um die Offenheit unser aller Städte nicht nur im Zentrum der zahlreichen neuen Sozialen Bewegungen steht, sondern vielmehr inwiefern der Neoliberalismus diesen Kampf führt. Wie bereits am Untertitel des Buches zu erkennen ist, baut Harvey dabei seine Überlegungen auf den immer noch aktuellen Schriften des marxistischen Stadt- und Kulturtheoretikers Henri Levevbre auf.

Right to the City

In 1967 schrieb Levevbre den kurzen Essay „Right to the City“, in dem er kurz vor Ausbruch der Mai Unruhen in 68 auf die Veränderungen der Stadt Paris hinwies und die These aufstellte, dass es demnächst zu unausweichlichen Kämpfen um den Raum der Stadt kommen wird. Harvey greift Levevbres Argumentation auf und verweist darauf, dass die Art und Weise wie sozialer und geographischer Raum, wie eine Stadt und wie Urbanität konstruiert, produziert und verwaltet wird eng mit unserer Freiheit und politischen Selbstbestimmung zusammenhängt. In einem 2008 erschienenen Artikel zu dem „Right to the City“ im New Left Review erklärte Harvey dieses Recht folgendermaßen: 

The question of what kind of city we want cannot be divorced from that of what kind of social ties, relationship to nature, lifestyles, technologies and aesthetic values we desire. The right to the city is far more than the individual liberty to access urban resources: it is a right to change ourselves by changing the city. It is, moreover, a common rather than an individual right since this transformation inevitably depends upon the exercise of a collective power to reshape the processes of urbanization. The freedom to make and remake our cities and ourselves is, I want to argue, one of the most precious yet most neglected of our human rights.

Den Begriffen eines 1974 erschienenen Textes von Levevbre „The Production of Space“ folgend, ist Harvey überzeugt, dass sich politische Bewegungen auf die Produktion und Reproduktion des urbanen Lebens fokussieren müssen, um revolutionäre Impulse für einen anti-kapitalistischen Kampf mobilisieren zu können (vgl. XVI). Dabei geht es weder Harvey noch Levevbre darum auf die große alles verändernde Revolution zu warten sondern vielmehr im Hier und Jetzt, in den Städten und auf deren Plätzen und Straßen „Heterotopien“ (die hier etwas anderes als bei Foucault bezeichnen sollen) zu produzieren, Räume also in denen etwas anders läuft, in denen, wenn auch nur für kurz Alternativen gelebt werden. 

We do not have to wait upon the grand revolution to constitute such spaces. Levevbre’s theory of a revolutionary movement is the other way round: the spontaneous coming together in a moment of ‘irruption’, when disparate heterotopic groups suddenly see, if only for a fleeting moment, the possibilities of collective action to create something radically different. (XVII)

Harvey zeigt somit die Aktualität von Levevbres Überlegungen auf, denn sind nicht diese Kämpfe um den öffentlichen Raum, diese Kämpfe um das Produzieren und Halten von besetzen Plätzen als Heterotopien, als Ort an denen – wenn auch nur für kurz — anders gelebt werden kann, ein großer Teil der aktuellen Sozialen Bewegungen? Harvey beschreibt in seinem Buch, teilweise sehr detailliert, wie die kapitalistische, neoliberale Ordnung unsere Städte verändert, wie der Kampf um leistbares Wohnen, um öffentlichen Raum der frei von Kommerzialisierung bleibt und darum „urbane Commons“ zu produzieren oder entgegengesetzt eben diese zu privatisieren einen großen Teil der aktuellen Auseinandersetzungen beherrscht. Nicht nur die Wirtschaft und neoliberale Regierungen führen diesen Kampf um die Stadt sondern eben auch Soziale Bewegungen, von den Initiativen für Gemeinschaftsgärten, über die Besetzung des Rothschild-Boulevards für leistbares Wohnen in Israel, bis zu Occupy Wallstreet und den Indignados die unter anderem für freie öffentliche Plätze und gegen Immobilienspekulationen und die Delogierung tausender MitbürgerInnen auf die Straße gingen. Nicht zuletzt zeigt sich die Richtigkeit von Harvey’s These auch in den jetzigen Protesten in Istanbul, die ebenfalls an einer Auseinandersetzung um die Zerstörung eines öffentlichen Parks und der Kommerzialisierung des Raums durch den Bau eines Einkaufszentrums entzündet wurden. (mehr dazu in diesem Blogpost)

Die urbanen Commons

Ich will und kann hier nicht ins Detail gehen und die zahlreichen Beispiele und Studien wiedergeben, die Harvey zur Stützung seiner Thesen bringt. Vielmehr möchte ich den Begriff der urbanen Commons erläutern, den Harvey als zentralen Begriff des Kampfes um die Stadt konstruiert. Die Produktion und Erhaltung von Commons als zentral für radikale Politik zu theoretisieren ist ja spätestens seit Hardt und Negri nichts Neues mehr. Harvey spezialisiert seine Analyse jedoch auf „urban commons“, die im Zentrum neoliberaler als auch emanzipativer Politik stehen. Urbanisierung ist hier schon seit langem der Schauplatz dieses Kampfes. „Urbanization is about the perpetual production of an urban commons (or its shadow-form of public spaces and public goods) and its perpetual appropriation and destruction by private interests.“ (80).
Commons an sich sind hier nicht vollkommen positiv besetzt, denn Harvey macht klar, dass es verschiedene Arten von Commons gibt. 1. Commons (wie z.B. Luft), die für alle offen und zugänglich sind. 2. Commons (wie Straßen z.B.) die prinzipiell offen wären, aber verwaltet sind und von zahlreichen Gesetzen reguliert und daher auch überwacht werden. 3. Commons die von Anfang an nur für eine ausgewählte bestimmte Gruppe zugänglich sind. Während der Neoliberalismus darauf bedacht zu sein scheint zahlreiche Orte der Städte, ja zusehends die gesamten Städte zu Commons der zweiten und dritten Art zu machen (man denke hier an kommerzialisierte und regulierte Räume wie Einkaufszentren, die noch dazu von privaten „Sicherheitskräften“ kontrolliert werden, oder auch gated communities, die — während an sozialer Ungleichheit und der Zerstörung der Stadt gearbeitet wird — den zahlungskräftigen Eliten ihr kleines dauerüberwachtes Eden simulieren), muss radikale Politik, müssen Soziale Bewegungen die soziale Praxis des „commoning“ (81) verfolgen, die Stadt also zusehends für alle zugänglich und offen halten. Während also die Straßen und Plätze (wir können hier abermals an den Taksim Platz denken) für den Autoverkehr und nicht mehr für die Menschen zugerichtet werden, versuchen immer mehr Soziale Bewegungen auf die Offenheit und Selbstverwaltung von Plätzen sowie auf die sozialen Ungleichheiten hinzuweisen (man kann hier auch an die gerade entbrannten Sozialen Proteste in Brasillien denken). 

Syntagma Square in Athens, Tahrir Square in Cairo, and the Plaz de Catalunya [as the Taksim Square and others] were public spaces that became an urban commons as people assembled there to express their political views and make demands. The street is a public space that has historically often been transformed by social action into the common of revolutionary movement, as well as into a site of bloody suppression.“ (73).

Rebel Cities – oder Was Tun?

Wie gilt es nun also für Harvey um diese urban commons zu kämpfen? Das „Right to the City“ ist kein direkt existierendes Recht sondern vielmehr „an empty signifier“, ein Recht dass erst erkämpft, ein Recht das stets neu (re)-konstruiert werden muss (vgl. 138). „Everything depends on who gets to fill it with meaning. The financiers and developers can claim it, and have every right to do so. But then so can the homeless and the sans-papiers.“ (XV) Für Harvey kann der anti-kapitalistische Kampf nicht ohne einen Kampf um die Stadt konstruiert und geführt werden. Denn genau hier in der Stadt, so Harvey, wären die führenden kapitalistischen Eliten am verwundbarsten „in terms of the value of assets they control“ (131). Die Frage wie nun also der Kampf konkret ausschauen muss, ja wie eine Stadt „richtig“ organisiert werden kann muss für Harvey, trotz zahlreicher geschichtlicher und aktueller Beispiele (von der Pariser Kommune über den Versuch des „Roten Wiens“ sowie über die Wasserkämpfe von Cochabamba bis zu OWS), offen bleiben. Jede Bewegung, jeder Kampf findet seine je eigene Ausdrucksform. Fest steht für Harvey nur, dass es nicht um eine Flucht auf das Land gehen kann, weg von der privatisierten Stadt. Denn einerseits darf die Stadt nicht dem Kapital überlassen werden, es braucht die Widerstände und andererseits ist die Trennung zwischen Land und Stadt schon lange am Erodieren. Daher braucht es für Harvey „Rebel Cities“, Städte die Kampfplätze sind, dazu zählen soziale Proteste und Aufstände (auch die Aufstände in den Vorstädten von London und Paris dürfen hier nicht ausgelassen werden1 ) Harvey beschreibt dabei die Taktiken und Praktiken von OWS, die in der Besetzung des öffentlichen Raums genau diesen Kampf um ein „Right to the City“ aufnehmen. 

Spreading from city to city, the tactics of Occupy Wall Street are to take a central public space, or park or a square, close to where many of the levers of power are centered, and, by putting human bodies in that place, to convert public space into a political commons – a place for open discussion and debate over what that power is doing and how best to oppose its reach. […] It shows us that the collective power of bodies in public space is still the most effective instrument of opposition when all other means of access are blocked.“ (161f)

Dass die Regierung zusammen mit der Wirtschaft hierauf nur mit blutiger Repression antworten können beweist für Harvey die Ohnmächtigkeit der Herrschenden, die – so scheint es — mit dieser Form des Protests eben nicht umgehen zu können.

Doch – so muss ich mich nach der Lektüre des Buches fragen – geht es bei den aktuellen Protesten nicht auch um mehr? Harvey stellt vollkommen richtigerweise einen Punkt ins Zentrum seiner Analysen, der bei den zahlreichen Reflexionen zu den Sozialen Bewegungen der letzten Jahre nur allzu gerne vergessen wird. Es geht bei diesen Protesten nicht nur um den Sturz von Diktatoren, die Kritik am Finanzkapitalismus und mehr Mitbestimmung. Es geht für viele der jungen, gebildeten und hauptsächlich urbanen Aufständischen auch um Urbanität selbst, um eine lebenswerte, offene Stadt in der es auch Plätze des öffentlichen Lebens gibt die nicht kommerzialisiert und von privaten Securitys überwacht sind, um Orte ohne Überwachungskameras, um leistbare Mieten und um einen selbstbestimmten und selbstverwalteten Raum. Die besetzen Plätze stören ganz bewusst den Verkehr von Personen, Waren und Dienstleistungen und eröffnen Räume der Reflexion und der Mitbestimmung. Die besetzten Plätze stellen so etwas wie eine neue Agora dar.
Diese Punkte sind von zentraler Bedeutung und doch kann ich Harvey in letzter Instanz nicht zustimmen. Denn auch wenn diese Fragen wichtig sind und behandelt werden müssen, so sind sie nicht der Schlüssel zum Verständnis der Bewegungen und auch nicht der alleinige Ausgangspunkt. Die alleinige Fokussierung auf „Rebel Cities“ verliert andere wichtige Soziale Bewegungen wie bäuerliche Landnahmebewegungen und ökologische Bewegungen aus dem Blick. Harvey theoretisiert also einen wichtigen Punkt der aktuellen Proteste, und daher ist dieses Buch auch äußerst lesenswert, und doch ist die Stadt und die urbane Revolution nicht der alleinige Schlüssel zu heutiger emanzipativer Politik, sondern vielmehr nur ein Puzzleteilchen unter vielen anderen.

Literatur

Harvey, David (2008): “Right to The City”. in New Left Review 53.

ders. (2012): Rebel Cities. From the Right to the City to the Urban Revolution. London: Verso. (online als pdf zu finden)

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  1. Die Raubzüge durch die Geschäfte im Rahmen der Londoner Riots sind dabei ein Zeichen der Ohnmächtigkeit der an den Rand Gedrängten gleichermaßen wie eine Nachahmung der Taktiken des Neoliberalismus. Harvey schreibt dazu: „They [Londoner Jugendlicher während der riots] are only doing what everyone else is doing, though in a different way – more blatantly and visibly, in the streets. They mimic on the streets of London what corporate capital is doing to planet earth.“ (156) []
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Anonym
Anonym
7 Jahre zuvor

Danke für die Zusammenfassung!

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