Dieser Beitrag ist Teil der Coronavirus und die Philosophie Serie. Einen Überblick über die weiteren Teile dieser Blogbeitragsserie gibt es hier.
In den Quicktakes, also kurzen Zusammenfassungen und Kommentierungen einzelner Artikel, dieser Woche steht die Frage der Begriffsarbeit im verbindenden Vordergrund. Im Rahmen dieser Serie wurden schon einige Begriffe und Konzepte, die momentan aktuell erscheinen oder eben auch viel diskutiert werden etwas näher betrachtet, so z.B. Biopolitik und Biomacht, Disziplinargesellschaft, Ausnahmezustand, demokratische Biopolitik, Gesundheit und einige andere.
Es ist essentiell gerade jetzt in einer Zeit der aufgerüsteten Worte, also dem oft beschworenen vermeintlichen „Krieg gegen den unsichtbaren Feind“, die Verwendung der Sprache und der Begriffe kritisch zu betrachten und zu reflektieren. Damit ist nicht nur das Anwenden verschiedener populärer theoretischer Konzepte auf die Pandemie gemeint, sondern auch die Verwendung von bestimmter Sprache in der politischen und wissenschaftlichen Kommunikation. Für die einen ist die momentane Situation eine täglich neu realisierte Biopolitik, andere sehen den totalitären Ausnahmezustand verwirklicht und andere gefallen sich besonders in der inflationären Verwendung von Virusmetaphern für alle möglichen und unmöglichen Ereignisse. Im Folgenden sollen daher einige dieser momentan häufig verwendeten Begriffe reflektiert, kritisiert oder nachgeschärft werden und dabei wird besonders die Frage ob man nun Foucault lesen soll oder nicht und warum man definitiv nicht mehr Agamben lesen muss, eine wiederkehrende Rolle spielen.
Sollte man Foucault gerade jetzt lesen?
Philip Sarasin – Mit Foucault die Pandemie verstehen? (Geschichte der Gegenwart Blog — 25.3.2020)
Philip Sarasin zeigt sich in seinem Beitrag kritisch gegenüber den zahlreichen, seiner Ansicht nach vorschnellen Verweisen auf Foucault und dessen Konzept der Biopolitik/macht in der momentanen Situation. Die Verweise auf den Begriff der Biopolitik seien, so Sarasin, nicht zuletzt deswegen problematisch, weil sogar Foucault selbst diesen Begriff wieder Ende der 70er Jahre fallen hat lassen. Sarasin widmet sich nach einer allgemeinen Kritik am momentanen Diskurs, schließlich sehr ausführlich den drei großen Infektionskrankheiten an denen Foucault seine unterschiedlichen Modelle des Regierens durchdachte, nämlich Lepra, Pest und Pocken.
Sarasins Aufruf zur Vorsicht und zur Behutsamkeit mit der Verwendung des Konzepts der Biopolitik ist nicht zu Unrecht viel zitiert und geteilt worden. Das Konzept nicht zu schnell an die momentane Situation anzuwenden ist zwar wichtig aber dabei zu behaupten, dass die momentane Situation gar nicht mit diesen Konzepten gelesen werden könnte, scheint mir jedoch ebenfalls überzogen. Besonders befremdlich ist dann die Auslegung Sarasins, dass Biopolitik schließlich gar nicht so eine große Rolle in vielen Staaten spielen würde, weil ihnen „die Gesundheit und das Leben der Vielen ziemlich egal“ wären.
Jede moderne Macht, jedes Regieren seit dem 18. Jahrhundert hat sich mehr oder weniger ernsthaft um das Leben und die Gesundheit der Bevölkerung zu kümmern. Allein, daraus abzuleiten, dass sich das Regieren in der Moderne und in unserer Postmoderne vollständig auf diese Sorge zurückführen ließe, dass das Regieren rundweg als Biopolitik zu verstehen sei, wäre gleichwohl ein Missverständnis. Es gibt genug Regierungen, denen die Gesundheit und das Leben der Vielen ziemlich egal sind – nicht zuletzt, weil deren Körper für die Schaffung von Wachstum und Wohlstand immer weniger gebraucht werden.
Doch gerade mit Foucault rückt doch in den Fokus, dass Biomacht nie das Leben und die Gesundheit aller meint, sondern eben immer auf einem konstruierten Bild eines „Volkskörpers“ aufbaut und damit immer auch der Prozess ist zu entscheiden welches Leben es „wert“ sei gesund gemacht zu werden und welches eben nicht. Dieser Aspekt ist leider gerade in aktuellen politischen Fragen ein sehr zentraler. Gerade deswegen scheint Foucaults Konzept der Biopolitik aber auch Achill Mbembes Konzept der Nekropolitik von dringlicher Aktualität.
Mehr Foucault lesen
Felipe Demetri – Biopolitics and Coronavirus, or don’t forget Foucault (Naked Punch – 21.3.2020)
Felipe Demetri geht in seinem Artikel zum Coronavirus genau in die entgegengesetzte argumentative Richtung. Für ihn ist, wie auch ich versuchte zu argumentieren, Biopolitik und Biomacht sehr wohl eines der momentan zentralen und wichtigen Konzepte um die Maßnahmen um und gegen Covid19 geeigneter verstehen oder zumindest diskutieren zu können. Sarasins Aufruf zur Vorsicht ist zwar angebracht, weil mit dem Begriff der Biopolitik momentan oft zu schnell um sich geworfen wird, aber eine ernste auf Foucault aufbauende und mit Mbembe erweiterte Analyse kann sehr wohl spannendes und vor allem wichtiges zur aktuellen Situation sagen.
Nach einer längeren und heftigen Kritik an Agambens Texten zum Coronavirus, einer Kritik der ich mich nur anschließen kann, bringt Demetri einige Argumente für eine foucaultsche Perspektive auf die momentane Situation ein, Argumente, die nicht nur gegen Agambens aktuelle Texte sondern auch gegen seine generelle Lesart der Biopolitik als totalitärer und „thanatopolitische“ Maßnahme gerichtet sind. Demetri darüber warum Foucaults Konzept so originell und wichtig ist:
[T]he essential originality that Foucault emphasizes several times when describing biopower is that, now, social powers no longer act exclusively in individual bodies (the sphere of discipline), but in the very “social body” of a given nation: to think about life and death, we must think about phenomena at the populational level. It is in this sense that, modernly, every death policy has overwhelming effects — it is important to remember that Foucault himself has coined the term “thanatopolitics” -, and every life enhancement policy has an equally broad scope, although, as has been observed many times, differential. That is why it has been a constant political struggle to increasingly expand the scope of life-affirming policies: to conquer more accessible medicines, health and personality rights, to depathologize trans and homosexual identities, etc. All of these political struggles, in the strict sense, are biopolitical.
Es ist also auch die Möglichkeit einer kämpferischen Biopolitik, einer demokratischen Biopolitik von unten (dazu habe ich hier mehr geschrieben), die Demetri in Foucault sieht und in Agambens Konzeption als nicht mehr denkbar verortet. Dabei kommt auch der Begriff des Ausnahmezustands in die Kritik. Denn, so Demetri, gerade die von Agamben geübte Kritik am momentanen „Ausnahmezustand“ verbindet sich hier mit jenen rechten und faschistoiden Predigern einer „Normalität“. Damit sind Diskurse wie, Covid19 sei nicht gefährlicher als der Grippevirus und andere verharmlosende Bemerkungen gemeint, Diskurse also die oftmals vor allem die wirtschaftlichen Interessen priorisieren. Hier sei eine Falschinformation oder auch zu wenig Information eben auch Biopolitik, weil sie die Menschen über wichtige Erkentnisse bewusst oder unbewusst im Unklaren lässt, wie Demetri ganz am Ende richtig bemerkt:
Finally, it is necessary to entertain a certain irony that permeates this debate. In a world increasingly saturated with fake news, it is possible that the initiative to minimize the coronavirus came from a correct intuition: the spread of hyperbolic news can corroborate with misinformation, or increase an undesired “climate of hysteria”. However, it is more and more clear that those working for disinformation are, in fact, those who insist on a certain “climate of normality”, as we saw in the recent public demonstrations in support of the Bolsonaro government, in which thousands of people ignored safety recommendations and went to the streets. We are in a situation where the (lack of) information is, in itself, a matter of biopolitics.
Weniger Agamben lesen
Anastasia Berg – Giorgio Agamben’s Coronavirus Cluelessness (The Chronicle of Higher Education – 23.3.2020) (mittlerweile anscheinend hinter einer Paywall)
Wer noch nicht genug Kritik an Agambens haarsträubenden Texten gelesen und gehört hat, der kann diese prägnante, aber leider mittlerweile als Premium Content versteckte) Kritik von Anastasia Berg lesen. Ohne zu sehr in die theoretischen Probleme seiner Texte einzugehen, kritisiert sie vor allem und sehr richtiger Weise die Geste des ehemals großen Philosophen, der während andere noch zaghaft abwägen und reflektieren, kaum warten konnte seine großen Konzepte in den Ring zu werfen. Berg zu dieser so problematischen und gleichzeitig nicht unüblichen Geste alternder Philosophen, denen „nackte Theorie“ wichtiger ist als kritisch-reflektierte Beiträge:
“What is a society,” Agamben asks, “that has no value other than survival?” Under certain circumstances, this is a good question; under these circumstances, it is a blind one. Is this the society Agamben believes he is living in? When this philosopher looks around him, does he truly see nothing but the fight for “bare life”? If so, Agamben’s “clarification” may be revealing in a way he hadn’t intended. We might think of it as a very lucid example of “bare theory”: the dressing up of outdated jargon as a form of courageous resistance to unreflecting moral dogma. Sometimes it is advisable to hold off on deploying the heavy theoretical machinery until one has looked around. If we are after wisdom about how to live today, we should look elsewhere.
Die Sprache der Pandemie und ihre Begriffe
Joseph Owen — States of Emergency, Metaphors of Virus, and COVID-19 (Verso-Blog – 31.3.2020)
Joseph Owen widmet sich in seinem längeren Beitrag für Verso ganz direkt der Sprache und den Begrifflichkeiten die den Diskurs der momentanen Situation beherrschen. Auch wenn Owen das erste Drittel des Textes ebenfalls einer starken Kritik Agambens widmet und die Debatte rund um Agamben, also z.B. Nancys Reaktion darauf, nachzeichnet, liegt der eigentliche Fokus des Textes aber nicht nur auf den theoretischen Begriffen. Denn Agambens Ausnahmezustand ist nur die Spitze eines ganzen Vokabulars das auch außerhalb theoretischer Auseinandersetzungen momentan besonders in Gebrauch ist. Die stärksten Stellen von Owens Text sind die Analysen genau jener politischen Kommunikation, die auf einer „Ausnahmezustand“ und „Freund-Feind“ Rhetorik aufbaut. So bringt Owen folgende interessante Analyse:
In times of crisis, the function of language takes on a new salience. Yet, even in peril we bristle at the words of our leaders. On 12 March, the UK Prime Minister Boris Johnson warned “families” that they “will lose loved ones.” Those who will actually die aren’t afforded the courtesy of direct address. When we’re unequivocally spoken to it comes in waves of hallucinogenic communication. On 18 March, Johnson signs off on a press release containing several visual assaults, among them: “Yes this enemy can be deadly, but it is also BEATABLE.”
Eine Kriegsrhetorik die das Virus ganz klar als unser aller Feind ausgemacht zu haben scheint durchzieht momentan nicht nur theoretische, politische sondern auch medizinische und journalistische Analysen der Situation. Dass Agamben sich angesprochen fühlte mag nicht überraschen, so Owen, ist es doch vor allem der nazistische Denker des Freund-Feind Schemas Carl Schmitt, der sich momentan wieder verstärkter Beliebtheit erfreut und dessen Arbeit Agamben maßgeblich beeinflusst:
Yet, it is the language of enemy that so far has trumped the metaphor of virus to describe COVID-19. On March 19, the WHO director-general Tedros Adhanom Ghebreyesus calls it an “enemy of humanity.” The universalism in this would make Schmitt anxious – invocations of humanity obscure the friend-enemy distinction.
Dabei müssen wir jedoch sehr vorsichtig sein, und hier gebe ich Owen recht, denn eine Feind-Rhetorik, auch wenn sie vermeintlich „nur“ gegen einen Virus gerichtet zu sein scheint, ist in ihrer zugrunde liegenden Logik immer schon eine totalitär ausschließende und verachtende Sprache. Daher ist es sehr wichtig, eben auch nicht nur in theoretischen Texten auf die Begriffe die diese Situation dominieren zu achten, denn gerade solche Begriffe und eine solche Rhetorik sind meistens auch von einer bestimmten, problematischen Politik begleitet.
Der Virus in der Sprache
Paul Elie – (Against) Virus as Metaphor (The New Yorker – 19.3.2020)
Paul Elie verweist in diesem kurzen und eher essayistischen Text auf die allgemeine Häufigkeit mit der wir das Virus als Metapher in der alltäglichen Sprache (das ist ansteckend), kulturellen Analysen (etwas ging viral) und unseren technologischen Diskursen (Computerviren) verwenden. Wie selbstverständlich und ohne wirklich über Viren selbst nachzudenken liefern wir nahezu täglich eine Vielzahl an metaphorische Verwendungen des Virus. Elie verweist dabei auf Susan Sontags Essay Illnes as Metapher, in welchem sie eben genau solche metaphorischen Verwendungen kritisiert. Elie auf Sontag aufbauend:
Rather than applying societal metaphors to illness, we’ve applied illness metaphors to society, stripping them of their malign associations in the process. It may be that our fondness for virus as metaphor has made it difficult for us to see viruses as potentially dangerous, even lethal, biological phenomena. In turn, our disinclination to see viruses as literal may have kept us from insisting on and observing the standards and practices that would prevent their spread. Enthralled with virus as metaphor and the terms associated with it—spread, growth, reach, connectedness—we ceased to be vigilant. Jetting around the world, we stopped washing our hands.
Vielleicht ist genau die so omnipräsente Konfrontation mit einem Virus, jener Moment in dem man über die Begrifflichkeit des Virus mehr nachzudenken beginnt, vielleicht, und dies erscheint letztlich wohl doch realistischer, ist es genau die momentane Omnipräsenz, die letztlich das Virus als Metapher noch mehr in unserer Sprache und unserem Denken festigen könnte.
Kritische Begriffsarbeit
Frankfurter Arbeitskreis – Corona-Glossar (Youtube – 29.3.2020)
Als Abschluss möchte ich eine Videoreihe des Frankfurter Arbeitskreises besonders empfehlen. Denn wie ich mit den Artikeln, die hier versammelt sind, aber auch mit der ganzen Reihe betonen möchte, ist es enorm wichtig einerseits kritisch gegenüber bestimmten verwendeten Begriffen und Konzepten zu sein, die gerade nahezu inflationäre Verwendung finden. Andererseits ist dagegen umso wichtiger selbst kritische Begriffsarbeit zu betreiben, und unterschiedliche Begriffe und Konzepte nach deren Brauchbarkeit und Aktualität zu befragen. Der Frankfurter Arbeitskreis hat genau dies in einer großen und sehr gelungenen Videoserie getan und sich dabei gleich 14 wichtigen Begriffen mit Kurzvorträgen gewidmet.
Diese Videoserie wurde letztes Wochenende veröffentlicht, und auch wenn ich selbst noch nicht alle Videos gesehen habe, kann ich diese Reihe sehr empfehlen. Auch der eine oder andere, hier gerade sehr kritisch verhandelte Begriff, Ausnahmezustand z.B., bekommt hier eine genauere Darstellung. Wer mehr zum Arbeitskreis wissen möchte und zur Idee der Serie kann mit dem hier verlinkten Einführungsvideo starten, die restlichen Videos finden sich hier.