Protest und Pandemie. Einige Überlegungen

Dieser Beitrag ist Teil der Coronavirus und die Philosophie Serie. Einen Überblick über die weiteren Teile dieser Blogbeitragsserie gibt es hier.

Credit: Elad Gutman siehe diesen Tweet

Während der Pandemie und ihren Ausgangsbeschränkungen nützte das Regime in Hong Kong die erzwungene Protestpause um Aktivist*innen zu inhaftieren. Gleichzeitig gingen die Bilder des größten Massenprotestes mit social distancing bisher, aufgenommen bei Protesten in Israel um die Welt. Doch wie ist Protest in der momentanen Situation möglich und welche Herausforderungen stellen sich hier? Wer kann im öffentlichen Raum protestieren, wer nicht?

Die momentane Situation der Ausgangsbeschränkungen hat auch Auswirkungen auf das Grundrecht der Versammlungsfreiheit und auf das Demonstrationsrecht. Soziale Bewegungen aber auch einzelne politische Proteste haben eine ganz besonders innige Verbindung zum öffentlichen Raum. Öffentlicher, zumeist städtischer, Raum ist für Proteste und Bewegungen weit mehr als nur ein Versammlungsort, mehr als nur der Ort an dem es gilt in Erscheinung zu treten. Der öffentliche Raum ist vielmehr Begegnungsort, Organisationsort, Ort des politischen Kampfes und oftmals auch Ziel und Inhalt der Proteste er kann aber auch, wie vor allem die sogenannte Welle der Platzbesetzungsbewegungen der letzten zehn Jahre zeigte, vorübergehender Wohnort, Ort der politischen Bildung und zentraler Bezugspunkt der Bewegung sein. Occupy Wall Street wurde mit dem Slogan „Are you ready for a Tahir moment” ins Leben gerufen, also inspiriert durch die Anrufung der platzzentrierten Bewegung in Ägypten, die Gezi-Bewegung nutzte den besetzen Ort nicht nur zur Organisation, sondern schützte diesen Ort damit auch vor dem Verschwinden und so ließen sich zahlreiche Beispiele aufzählen, die die intrinsische Verbindung sozialer Bewegungen und öffentlicher Räume aufzeigen. An anderen Stellen habe ich über die vielfältigen Zusammenhänge des öffentlichen Raums und sozialer Bewegungen ausführlicher geschrieben, einen Überblick über diese Artikel finden Sie am Ende dieses Beitrags (hier).

In Zeiten der Pandemie, in denen der öffentliche Raum nicht nur für politische Proteste sondern für nahezu alle Tätigkeiten (vor allem jenen, die keinen ökonomischen Mehrwert erzeugen) gesperrt ist, stellt dies Soziale Bewegungen vor neue Herausforderungen. Wie kann unter diesen Umständen demonstriert werden, wie kann man sich weiter organisieren, wie weiter auf die Missstände und Probleme aufmerksam machen, wie soziale Ungleichheiten bekämpfen und aufzeigen. In den letzten Wochen wurde daher mit vielen unterschiedlichen Ideen und Protestformen experimentiert. Online Petitionen und Proteste auf Social Media (Avatar-veränderungen, Blogrolls, etc.) erfreuen sich dabei verständlicherweise besonderer und vielleicht auch erneuter Beliebtheit. So hat z.B. auch die Fridays for Future Bewegungen versucht ihre wöchentlichen Kundgebungen in online-Form weiterzuführen. Doch auch Versuche den Protest auf die Straße zu bringen gab es viele, von unterschiedlichen Seiten und mit unterschiedlichen Erfolgen. Im Folgenden sollen einige Ambivalenzen solcher Versuche, mögliche Unterschiede zwischen linken und rechten Straßenprotesten und schließlich auch einige Probleme Social Media getriebener Proteste in aller Kürze reflektiert werden. Dazu gibt es auch einen kurzen Quicktakes-Beitrag zur Frage der Ungleichheit und des Protests in Zeiten der Coronavirus-Pandemie.

Wessen Raum, wessen Straße, wessen Risiko

Die Pandemie stellt also politische Proteste und soziale Bewegungen vor große Herausforderungen. Wie lässt es sich verantwortungsvoll protestieren, wenn die Protestierenden durch die Aktionen selbst einem Ansteckungsrisko ausgesetzt wären. Dabei ist die behördliche Verordnung der Ausgangsbeschränkung nur ein Teil des Problems, oftmals besteht Protest schließlich in Verwaltungsübertretungen, zivilem Ungehorsam und dem Entgegentreten staatlicher Platzverbote. Das Besondere in diesen Zeiten ist jedoch, dass viele Proteste die Ausgangsbeschränkungen selbst nicht kritisieren wollen, sondern es um andere Themen geht, die Ausgangsbeschränkungen dabei vielleicht sogar als sinnvoll erachtet werden und daher Protestformen gefunden werden müssen, die mit diesen Einschränkungen konform gehen. Seien es Protestspaziergänge mit Abstand, minutiös eingeteilte Kundgebungen wie in Israel, wo der Ort jede*r einzelnen Protestierenden genau bestimmt wird, seien es Autokonvois oder eben Proteste im Online Bereich.

Wie ich in meinem Beitrag zur Kontrollgesellschaft dargestellt habe, ist es wichtig zu sehen, dass die momentane Situation auch nicht so sehr von einem Einsperrungsregime bestimmt ist, als im Sinne der Kontrollgesellschaften der kontrollierten Bewegung. Wer darf in den öffentlichen Raum, wer muss raus, weil die Arbeit nicht im Home Office getan werden kann, wer muss seine Gesundheit für die Arbeit riskieren und wer hat weder Arbeit noch die Möglichkeit rauszugehen. Auch ist zu fragen, wer eher kontrolliert wird beim Spazieren, wer tendenziell öfters Strafen bekommt usw. Es geht also nicht so sehr um eine Einschließung aller Körper sondern eine mal mehr mal weniger kontrollierte Begegnung von Körpern. Oftmals gilt es daher auch genau gegen dieses Kontrollregime zu protestieren, dagegen also, dass manche Körper mehr riskiert werden als andere, manche einsperrt und andere gezwungen werden sich zu bewegen, trotz Risiko.

Ob Proteste, die sich an die momentan herrschenden Abstands- und Ausgangsregeln halten tatsächlich als „brave“ Protestformen bezeichnet werden können (siehe dazu den Artikel von Laloire), Radikalität also dann nur jenen zugesprochen werden würde, die sich und andere riskieren, das muss bezweifelt werden. Ich würde dagegen genau argumentieren, dass die Frage ob die Protestierenden sich und andere (unnötig) riskieren oder nicht, eine der zentralen Unterschiede zwischen konservativ und rechten Protesten und progressiven Protesten zu sein scheint.

Protestieren, aber wie? Einige Unterschiede zwischen links und rechts

Die meisten und vor allem vehementesten Proteste im öffentlichen Raum, also auf der Straße finden momentan in den USA statt, organsiert und angespornt von rechten Gruppierungen und der NRA richten sich diese Proteste vor allem gegen die Ausgangsbeschränkungen selbst und die Einschränkung des öffentlichen und vor allem wirtschaftlichen Lebens. Wie auch in manchen einzelnen philosophischen Kritiken an den Ausgangsbeschränkungen, so steht auch bei diesen Protesten vor allem ein abstrakter Freiheitsbegriff im Zentrum, denn wessen Freiheit genau gemeint ist, und wessen Freiheit schon zuvor massiv eingeschränkt war, wird nicht weiter verhandelt. Neoliberale Apologet*innen nützen dabei vor allem ihre mediale Macht um den Druck für die Öffnung der Wirtschaft weiter aufzubauen, dabei wird oftmals eine martialische Rhetorik verwendet, die behauptet dass es besser wäre in „Freiheit“, gemeint ist die Freiheit einkaufen zu gehen und in die Arbeit gehen zu müssen (wobei das nicht diesselben Gruppen sein müssen), am Virus zu sterben, als eingesperrt und in Unfreiheit zu bleiben. Diese Logik übersetzt sich in teils gewalttätige Proteste gegen die Ausgangsbeschränkungen. Über die rechten Netzwerke hinter diesen Protesten hat z.B. auch der Guardian in diesem Artikel berichtet. In Deutschland finden mittlerweile ebenfalls vermehrt Proteste auf der Straße statt, oftmals von rechten Gruppierungen und vor allem von Gruppierungen, die dem Milieu der Verschwörungstheoretiker*innen zuzurechnen sind. Der MDR hat in diesem Artikel einiges zu den Hintergründen der Gruppierungen die hier protestieren geschrieben.

Linke und progressive Proteste im öffentlichen Raum, denen wie so oft mit großer und teilweise größerer Repression begegnet wird, mögen zwar ebenfalls momentan auf der Straße protestieren, unterscheiden sich jedoch grundsätzlich von den zuvor beschriebenen rechten und wirtschaftsliberalen Protesten. Einerseits unterscheiden sich die progressiven und linken Straßenproteste in der Form, zumeist wird versucht den Mindestabstand zu anderen auch während des Protestes einzuhalten, Schutzmasken werden getragen, usw. Bei rechten Protesten wird dies nicht oder nur selten vollzogen, da dies zumeist Proteste gegen die Schutzmaßnahmen selbst sind, und daher diese bewusst missachtet oder ignoriert werden, aus Protest eben oder weil gar nicht an die Gefährlichkeit des Virus geglaubt wird. Aber auch inhaltlich unterscheiden sich die linken Proteste logischerweise sehr klar, denn hier geht es zumeist um Ungleichheiten, Missstände und jene, die eben nicht protestieren können, wie. Z.B. Refugees. Es geht also nicht direkt um die Pandemie, sondern um Folgen der Pandemie für einzelne benachteiligte Gruppen, seien es Refugees die ungeschützt in überfüllten Lagern der Ansteckung ausgeliefert sind, oder für jene, die sich jetzt die Miete nicht mehr leisten können oder weiterhin unter gefährlichen Umständen arbeiten gehen müssen, um nur einige Beispiele zu nennen. Die linken Proteste zeichnen sich also vor allem durch ein Eintreten für die „Anteillosen“, wie Ranciére es nennen würde, also für die, die eben genau nicht ihre Stimme erheben können, oder auch zu wenig gehört werden, ein und betreffen seltener die Maßnahmen gegen das Virus selbst.

Diese Einteilung mag in der Allgemeinheit etwas schemenhaft, verallgemeinernd und auch vereinfachend sein, dennoch ist es wichtig in dieser Situation unterschiedliche Proteste und Protestformen zu unterscheiden, auch wenn klar ist, dass dies nicht immer so leicht möglich ist. Es müssen auch nicht immer Proteste sein, die sich selbst dezidiert links oder rechts einordnen, die oben getroffene Einteilung hilft dennoch in der Unterscheidung. So können wir auch auf die Proteste gegen die Regierung im Libanon schauen, die mittlerweile seit langem anhalten und auch in der jetzigen Situation der Pandemie nicht abebben. Zu den Forderungen wurde nun eben auch mehr Schutzmaßnahmen gegen das Virus hinzugefügt, denn viele fühlen sich hier von der Regierung genauso alleine gelassen wie auch bei anderen Themen. Der letzte Protest im Libanon fand dabei in einem Autokonvoi statt, um – wie einer der Organisatoren im Interview sagte – den Mindestabstand einhalten zu können und eine Verbreitung des Virus eben auch verhindern zu können.

Social Media und die Gefahr der „soft leadership“

Eine Vielzahl an Protesten hat sich aber auch, wie schon weiter oben erwähnt, auf Protestformen im Online-Raum konzentriert. Der Online-Raum ist dabei ähnlich, wie immer größere Teile der Stadt, kein rein öffentlicher Raum, sondern ein semi-öffentlicher oder überhaupt privatisierter Raum. Manch eine online Social Media Plattform ist dabei eher mit dem Raum eines Einkaufszentrums zu vergleichen als mit einem öffentlichen Platz, es geht dabei vor allem um Profite und die Gegebenheiten des Raums sind von gewinnorientierten Firmen bestimmt. Es ist wichtig sich diese Beschränkungen des Raums im Internet immer wieder in Erinnerung zu rufen, weildiese Beschränkungen auch bestimmen, wer auf den großen Plattformen überhaupt zu Protest aufrufen kann, sich organisieren kann und wer oder welche Themen eher in kleineren, selbstorganisierten und verschlüsselten Plattformen arbeiten müssen oder auch wollen.

Ein anderer wichtiger Aspekt der online-Organisation von Protesten, ist schon ein lang beobachtetes Phänomen und Problem, das gerade in einer vollständigen Verlagerung sozialer Bewegungen in Online-Organisation noch problematischer wird. Es geht nämlich um das, was der Protestforscher Paolo Gerbaudo in seiner Studie über die erste Welle der Platzbesetzungsbewegungen – Tweets and the Streets (2012) – „soft leadership“ nannte. Viele Bewegungen der letzten Jahre verstehen sich selbst oftmals als tendenziell hierarchielos/arm, als dezentrale und horizontal organisiert, sprich als basisdemokratisch und damit der Gleichheit aller in der Bewegung verpflichtet. Doch wie in den meisten Bewegungen der Geschichte gibt es Kernaktivist*innen, die zumeist weil sie mehr Ressourcen und mehr Zeit haben, intensiver an der Bewegung teilnehmen und so auch mehr entscheiden können. Solche Strukturen sind dann kein Problem, wenn sie innerhalb der Bewegungen diskutiert werden. Problematisch ist es dann, wenn es sich um nicht erkannte oder nicht diskutierbare informelle Hierarchien handelt.

Eine Form von informeller Hierarchie ist dabei die Frage, wer Admin-Rechte hat, für die offiziellen Accounts der Bewegung auf den großen Social Media Plattformen. Hier kann im Namen der Bewegung gesprochen werden und damit verfügen diejenigen, die Zugang zu den großen offiziellen Accounts haben auch über mehr Macht innerhalb der Bewegung. Gerbaudo formuliert daher für heutige Bewegungen:

It is communication that organises, rather than organisation that communicates. (Gerbaudo 2012, 139)

Die Plattformen und ihre unterschiedliche Struktur sowie die unterschiedlichen Funktionen und das diverse Publikum verschiedener Plattformen bestimmen in einer gewissen Art auch die Form der Organisation und der Hierarchie in einer Bewegung mit, dies zu diskutieren ist nicht nur in der momentanen Situation für jede Bewegung von enormer Wichtigkeit.

Konklusion?

Inwiefern sich bereits etablierte Bewegungen auch über die Pandemiezeit im Online-Raum halten werden können, ob ihre Aktionen eine Weiterführung oder nur ein „Throw Back“ (wie es der Protestforscher Knopp in diesem Artikel argumentiert) also eine Erinnerung an ihre früheren Aktionen sind, all das wird sich noch zeigen. Auch wie erfolgreich neue Proteste, die sich mit Folgen und Ungleichheiten der Pandemie beschäftigen, sein werden, ist momentan noch schwer abzuschätzen. Definitiv sind die Möglichkeiten großer Massenproteste momentan eingeschränkt, gleichzeitig ist die Kritik an der Machtverteilung und die Unzufriedenheit vieler sehr hoch, auch scheinen manche gesellschaftliche Ungleichheiten gerade in der Pandemie nun mehr Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit zu bekommen.

Klar ist aber auch, dass der online-Raum kein vollständiger Ersatz für das Protestieren im öffentlichen Raum der Stadt ist und sein kann, auch wenn es zu abgeschlossene Dichotomien zwischen Online und Offline zu kritisieren und hinterfragen gilt. Ob deswegen nun weniger politisches Engagement oder politischer Kampf stattfindet, wage ich zu bezweifeln, denn viele Kämpfe finden momentan gerade notwendig klandestin statt, Organisierung in besetzen Häusern oder über Online-Gruppen, Kämpfe gegen Räumungen und direkte Hilfe für die, die sie gerade besonders brauchen, all dies findet statt, zwar nicht auf den großen zentralen Plätzen der Stadt, aber dezentraler und verstärkter im kleinen.

Weiterführende Artikel zu Sozialen Bewegungen, öffentlichen Raum und neuen Medien

Blogbeiträge:

Resistanbul — Gezi und das Right to the City

Eine Linksammlung interessanter Artikel zu der Gezi-Bewegung

Taksim Commune — Über einen Dokumentarfilm zur Gezi-Bewegung

Occupy Wall Street — 2 Jahre danach

Occupy Wall Street — Einige Literaturreviews

Was bedeutet Links-Sein eigentlich. Eine deleuzianische Antwort.

Besetze Häuser und der Kampf gegen Gentrifizierung

Einschätzungen zu #unibrennt — 5 Jahre danach

andersweitig publizierte Artikel:

Politix: „Macht.Platz – Zur Rolle des besetzen Platzes und neuer Technologien in aktuellen Sozialen Bewegungen“, hier reflektiere ich sowohl die Rolle des öffentlichen Raums, als auch den Zusammenhang zu neuen Technologien damaliger Bewegungen (vor allem Tahrir,Occupy und Gezi). (2015)

Polylog, der Zeitschrift für interkulturelle Philosophie: „Für eine ‚Grammatik der stotternden Stille‘. Interkulturelle politische Kunst zwischen Immobilität und Bewegungen“ - Mehr philosophisch habe ich die Gezi-Bewegung und verschiedene Proteststrategien dieser Bewegung in einem längeren Artikel mit einer deleuzianischen Perspektive reflektiert (2016)

(2015): „Territorien des Widerstandes. Von Ver-ortung und Ent-grenzung der Demokratie“. in Atis/Garrison/Stenger/Wimmer (ed.): Ort/e des Denkens – Places of Thinking. München: Verlag Karl Alber. (nicht online)

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