Preciado: Die problematische Lehre des Virus

Dieser Beitrag ist Teil der Coronavirus und die Philosophie Serie. Einen Überblick über die weiteren Teile dieser Blogbeitragsserie gibt es hier.

Der Philosoph und Kurator Paul B Preciado hat mittlerweile mehrere Texte über das Thema der Stunde verfasst, Texte die bereits in verschiedenste Sprachen übersetzt und durchaus viel geteilt wurden. Preciado beschäftigt das Coronavirus aber nicht bloß als ein gesellschaftliches, biopolitisches aber auch soziales und medizinisches Ereignis, das einen tiefen und wohl unumkehrbaren Einschnitt darstellt. Preciado hat noch einen anderen, direkteren, Zugang zu dieser Frage, denn er erkrankte selbst Mitte März an dem Virus und war damit auch ganz direkt davon betroffen.

Im Folgenden möchte ich einige Argumente aus zwei Texten, die Preciado nach seiner Genesung verfasst hat herausgreifen und diskutieren. Obwohl sich dabei einige interessante Thesen finden lassen, die es wert sind näher diskutiert zu werden, muss ich dennoch gleich vorweg mein Unbehagen mit einigen hochproblematischen Stellen dieser Texte ausdrücken, die ich weiter unten direkt kritisieren werde. Auch wenn viele interessante Thesen zu finden sind, lassen mich diese problematischen Teile des Textes doch fragen, warum Preciados Texte zum Coronavirus bisher eine hauptsächlich positive Rezeption erfahren haben?

Für ein gutes Leben

Der erste, sehr viel kürzere Text erschien am 26. März am Blog des Art Forums und ist in erster Linie ein sehr persönlicher Text, der sich vor allem dem Verlauf der Krankheit und den ersten Tagen und Gedanken nach der Krankheit widmet. Die tiefe körperliche Erfahrung dessen, was gleichzeitig auf einem globalen Level in den Nachrichten berichtet wird verstärkte, so beschreibt es Preciado, das Gefühl, dass dieses Virus und die notwendigen Maßnahmen gegen eine Pandemie alles verändern werden, auf einem individuellen Level wie auf einem sozialen und gesellschaftlichen und damit natürlich auch auf einem politischen. Die doppelte Erfahrung des Virus und die daraus hervorgehenden Veränderungen beschreibt Preciado unmittelbar nach der Genesung wie folgt:

Between the fever and the anxiety, I thought to myself that the parameters of organized social behavior had changed forever and could no longer be modified. I felt that with such conviction that it pierced my chest, even as my breathing became easier. Everything will forever retain the new shape that things had taken. From now on, we would have access to ever more excessive forms of digital consumption, but our bodies, our physical organisms, would be deprived of all contact and of all vitality. The mutation would manifest as a crystallization of organic life, as a digitization of work and consumption and as a dematerialization of desire.

Viele dieser Überlegungen werden auch im zweiten Text eine größere Rolle spielen. Im ersten jedoch widmet sich Preciado zunächst vor allem der Frage nach den Umständen und Bedingungen eines lebenswerten Lebens, eines guten Lebens. Gezeichnet von den Entwicklungen und der erzwungenen eigenen Isolation, bleibt also die Frage nach den Möglichkeiten in dieser neuen, erzwungen veränderten Welt die Bedingungen der Möglichkeit eines guten Lebens zu erkämpfen. Wie dies aussehen kann, dass bleibt in dieser ersten Reflexion des Virus noch offen, muss wohl offen bleiben.

Biopolitik und die Immunität der Gemeinschaft

Der zweite und bei weitem mehr zitierte Text den Preciado nach seiner Genesung verfasste ist mittlerweile bei Hebbel am Ufer auch auf Deutsch übersetzt worden (der Text wird auch Teil eines Bandes von Preciado, der bei Suhrkamp erscheinen wird, sein) und trägt den bezeichnenden Titel: Vom Virus lernen.

Im ersten größeren Teil dieses Textes geht es um eine Begriffskonkretisierung. Dabei verweist auch Preciado, wie viele zuvor, auf die wichtige Rolle die Foucault und seinen Konzepten der Disziplinarmacht und der Biopolitik/macht in der Analyse der momentanen Vorgänge zukommt. Dabei ist besonders wichtig auch den Körperbegriff zu klären, eine Frage die auch hier in dieser Serie schon öfters diskutiert wurde. Preciado fasst dabei prägnant zusammen, warum Foucault und sein Körper- und Biopolitik Verständnis nicht nur jetzt so interessant sind:

Im Zentrum aller Politik steht der lebende (also sterbliche) Körper – das ist das Wichtigste, was Foucault uns gelehrt hat. Keine Politik, die nicht Politik der Körper wäre. Der Körper aber ist für Foucault kein biologischer Organismus, den es schon gibt, bevor Macht über ihn ausgeübt wird. Es ist vielmehr Aufgabe des politischen Handelns selbst, den Körper erst herzustellen, ihn arbeiten zu lassen, seine Produktions- und Reproduktionsweisen festzulegen und die Diskursmodi vorzuzeichnen, in denen dieser Körper sich selbst fiktionalisiert, um schließlich “ich” sagen zu können. Foucaults gesamtes Werk kann als historische Analyse der unterschiedlichen Machttechniken begriffen werden, die das Leben und den Tod der Bevölkerung verwalten.

Die unterschiedlichen Machttechniken korreliert Foucault dabei eben auch mit verschiedenen Krankheiten und Preciado führt dies fort. In den besten und spannendsten Stellen des Textes beschreibt Preciado die gesellschaftlichen und machtpolitischen Hintergründe hinter Syphilis, welche Unterdrückungs- und Ausbeutungsmechanismen sich hier mit welchen konstruierten Sexual- und Gemeinschaftsbildern verschränkten und so bestimmte rassifizierte und vergeschlechtliche Körper zu krankheitsübertragenden also ansteckenden Körpern erklärt wurden. Ähnlich Mechanismen lassen sich auch im Umgang mit der Aids Epidemie (über deren biopolitische Implikationen an anderer Stelle in dieser Serie schon geschrieben wurde) feststellen. Wieder sind es bestimmte Körper und bestimmte Kontakte die stigmatisiert werden und wieder ist es nicht die gesellschaftliche Isolation dieser ausgestoßenen Gruppen, die die Epidemie eingrenzt sondern der Kampf für Aufklärung und sexuelle Selbstbestimmung, wie Preciado aufzeigt. Aids so Preciado ist für die „neoliberale heteronormative Gesellschaft“ was Syphilis für „die Industrie und Kolonialgesellschaft des 15. Jahrhunderts“ war. Wie auch schon Foucault geht es Preciado nicht nur in diesen Texten also um die Verschränkungen der Machtdispositive und Machtmodelle und deren Verbindung zu sexuellen Diskursen:

Das Gemeinschafts-/Immunitätsmodell von Aids ist an das Phantasma der souveränen männlichen Sexualität als unverhandelbarem Recht auf Penetration gebunden, während penetrierte Körper (in den Varianten der Homosexualität, der Weiblichkeit, der Analität) als solche gelten, denen es an Souveränität mangelt.

Preciado geht auch auf die von Roberto Esposito erarbeitenden Begriff der Communitas näher ein, der aufzeigt, dass schon im Wortstamm der Gemeinschaft auch die Immunität zu finden ist. Das lateinische Wort munus bezeichnet eine Abgabe oder Steuer und derjenige der als immun gesehen wird, war damals eben von dieser Abgabe befreit. Die Immunität war damit ein Privileg, weil es Individuen davon befreite die Abgabe zu leisten, die die Gemeinschaft, also jener die durch ihre Abgaben und Steuern eine Gemeinschaft bilden, überhaupt erst bildet. In die Gemeinschaft so Preciado auf Esposito aufbauend ist also immer schon eine Hierarchie eingeschrieben, denn neben denen die Abgaben leisten und jenen Privilegierten, die dies nicht tun müssen, baut der Gemeinschaftsbegriff auch immer auf einem Ausschluss auf, also jenen die nicht Teil der Gemeinschaft sein dürfen. Preciado dazu:

Jede Biopolitik ist, wie Roberto Esposito unterstreicht, immunologisch. Sie impliziert eine Definition der Gemeinschaft und eine Hierarchie zwischen denen, die von Abgaben oder Gaben befreit sind (als immun gelten), und denen, die von der Gemeinschaft als potenziell gefährlich betrachtet und in einem Akt des Immunschutzes ausgeschlossen werden (den démunis). Das ist das Paradox der Biopolitik: In jedem Schutzakt steckt eine immunitäre Definition der Gemeinschaft, in deren Namen es wiederum gestattet wird, einen Teil dieser Gemeinschaft der Idee ihrer Souveränität zum Opfer zu bringen. Der Ausnahmezustand ist die Normalisierung dieser unerträglichen Paradoxie.

Besonders der letzte Satz schließt dabei unmittelbar an Agambens Arbeit an und eröffnet damit eben auch einen Bezug zu den zahlreichen Diskussionen rund um Agambens Beiträge zum Coronavirus. Preciado geht jedoch einen anderen Weg, denn er interessiert sich, wie auch schon in seinem ersten Text nach seiner Erkrankung angedeutet, vor allem für die direkten Veränderungen durch und in der Pandemie.

Von den Disziplinargesellschaften zu den Kontrollgesellschaften

An einer interessanten Stelle in der Mitte des Textes kommt die Frage von technologischen Entwicklungen, beziehungsweise eher technologischen Umwälzungen und deren Rolle in dem bisher Beschriebenen zur Sprache. Denn es ist immer ein Gemenge an verschiedenen einander vielleicht, so könnte man Preciado ergänzen, gegenseitig koproduzierenden Faktoren, welche die nachhaltigen gesellschaftlichen Umwälzungen antreiben. So geht und dies wurde in vielen Arbeiten gezeigt, eine technologische Umwälzung wie die Druckerpresse und damit schrittweise auch der aufkommende Frühkapitalismus mit der Kolonialisierung und Ausbeutung großer Teile der Welt Hand in Hand. Preciado dazu:

Im 15. Jahrhundert gingen wir mit der Erfindung der Druckerpresse und der Expansion des Kolonialkapitalismus von einer Oral- zu einer Schriftkultur über, von einer feudalen zu einer industriell-sklavenhalterischen Produktionsform sowie von einer theokratischen zu einer Gesellschaft, die von wissenschaftlichen Übereinkünften regiert wird, in denen die Begriffe des Geschlechts, der “Rasse“ und der Sexualität zu bio- und nekropolitischen Mechanismen der Bevölkerungskontrolle wurden.

Die große gesellschaftliche Umwälzung der letzten Jahrzehnte waren dabei vor allem die Digitalisierung und die Globalisierung. Hier gäbe es viel zu sagen, doch das würde bei weitem den Rahmen dieses Beitrags sprengen, daher verweise ich hier vor allem auf den Beitrag zu Deleuzes Kontrollgesellschaftsaufsatz, der einige Aspekte, wenn auch nicht alle wichtigen, dieser Umwälzung beschreibt. Preciado übernimmt ebenfalls in seinem Text sehr viele Motive und auch Begriffe dieses Textes auf ohne jedoch Deleuze dabei zu zitieren. Interessant ist dabei definitiv die Beschreibung der heutigen Kontrollgesellschaften und ihrer Verbindungen zu den immer noch aktiven disziplinargesellschaftlichen Institutionen:

Heute erleben wir den Übergang von einer schriftlichen zu einer cyberoralen und von einer organischen zu einer digitalen Gesellschaft, aber auch von einer industriellen zu einer immateriellen Ökonomie, von einer Form der disziplinarischen und architektonischen Kontrolle zu mikroprothetischen und medial-kybernetischen Kontrollformen. Pharmapornografisch nenne ich diese Spielart der Verwaltung und Produktion des Körpers, aber auch der sexuellen Subjektivität innerhalb dieser neuen politischen Konfiguration, weil die Körper und die heutige Subjektivität nicht länger allein durch Disziplinarinstitutionen (Schule, Fabrik, Kaserne, Krankenhaus etc.) reguliert werden, sondern vor allem durch ein Ensemble biomolekularer, in den Körper eindringender Techniken, durch Mikroprothesen und digitale Überwachungstechnologien.

Pharmapornographie in Zeiten der Pandemie

Preciado hat in seinem Werk den Begriff der Pharmapornographie für diese neuen Formen an Machtdispositiven geprägt und führt diesen Begriff auch in diesem Text sehr prominent ein. Was er damit meint, und vor allem was er unter dem „pornographischen“ versteht, erläutert Preciado in diesem Text folgendermaßen:

Pornografisch nenne ich diese Steuerungstechniken, weil sie nicht länger auf der Unterdrückung und dem Verbot von (masturbatorischer und anderer) Sexualität, sondern auf Konsumanreizen und der Dauerproduktion einer reglementierten und quantifizierbaren Lust beruhen. Je mehr wir konsumieren und je gesünder wir sind, desto effektiver werden wir kontrolliert.

Die Maßnahmen gegen das Coronavirus verbinden nun, so Preciado, zwei verschiedene Machtformen. Denn einerseits ist die Reaktion auf Covid19 ähnlich der Einsperrung wie zu Pest Zeiten (siehe dazu Foucaults Passagen aus „Überwachen und Strafen“), andererseits setzen mittlerweile auch immer mehr Länder auf die Kontrolle der Bewegung (Mobilitätsprofile) durch Überwachung und dem Einsatz digitaler mobiler Technologien, wie vor allem Smartphones (Apps die die Kontakte zu anderen speichern). Dabei handelt es sich aber, wie ich am Begriff des Kontrollgesellschaft versucht habe zu zeigen, nur um begrenzt unterschiedliche Herrschaftsmechanismen, denn eigentlich sind die beiden Mechanismen der Einsperrung und Kontrolle schon lange intrinsisch miteinander verschränkt. Beide Arten der Einschließung/Kontrolle bauen symbiotisch aufeinander auf, benötigen einander.

Grenzpolitik, Europa als immunisierte Gemeinschaft?

Preciado geht dabei auch auf die drängende und gerade in der aktuellen Situation oftmals eher verdrängte Frage der dringlichen weil dramatischen Situation der Refugees an den Grenzen Europas ein. Preciado weist richtiger- und wichtigerweise auf die Intensivierung der Grenzschließungen und die Ausweitung nationaler Grenzpolitiken hin. Dabei betont er auch eine Verschiebung der Grenzpolitik, die nicht nur an der Grenze stattfindet, sondern in die Körper „verschoben“ wird. Preciado:

Covid-19 hat die Grenzpolitiken, die früher auf nationalem oder auf dem supranationalen Territorium Europas zum Einsatz kamen, auf die Ebene des individuellen Organismus verlagert.

Diese Analyse erscheint mir etwas problematisch und zwar vor allem weil die Einschreibung von Grenzregimen bei Weitem kein neues Phänomen ist und schon lange und ständig intensiviert praktiziert wird. Die Einschreibung der Grenzregime in den Körper, durch racial profiling aber auch durch biometrische Methoden hat nichts mit der aktuellen Situation rund um den Virus zu tun, sondern ist schon lange ein Merkmal der Grenzpolitiken, sie wird lediglich verstärkt durch das Virus. Étienne Balibar hat in seinem Essay „Politics and the other Scene“ schon 2002 dazu geschrieben:

The result is that some borders are no longer situated at the borders at all, in the geographico-politico-administrative sense of the term. […] For quite some time now, it has been giving way, before our very eyes, to a new ubiquity of borders“ (Balibar 2002, 84).

Auch der Kultur- und Sozialanthropologe Shahram Khosravi, der über seine eigene jahrelange Flucht nach Europa mehrere sehr lesenswerte Texte und Bücher verfasst hat, und mittlerweile Professor in Stockholm ist, beschreibt über seine heutigen Erfahrungen beim Grenzübertritt:

My status as a Swedish citizen disappeared at the border because of my face. […] My legal status as an EU citizen is situational, conditional and unconfirmed. I am a quasi-citizen whose rights can be suspended in the state of emergency. I am included and at the same time excluded. (Khosravi 2007, 332)

Das die Grenze auch vermeintlich wissenschaftlich, durch technologische Hilfsmittel wie biometrische Daten, aber auch durch z.B. Isotopen-Analysen in die Körper eingeschrieben wird (vgl. dazu meinen Artikel gemeinsam mit Josef Barla hier) ist also allgemein bekannt. Die Zitate sind dabei nur einzelne Beispiele für eine Fülle an Literatur die dieses Phänomen seit mehr als 20 Jahren beschreibt und theoretisiert. Preciado nützt diese Erkenntnis jedoch nicht um die dramatische Situation der Refugees zu beschreiben, sondern um die eigene privilegierte Position mit jener wirklich prekären Position gleichzustellen. Die folgenden Stellen sind die bei weitem problematischsten Stellen des Textes, Aussagen die in ihrer Plumpheit jegliche theoretische These dahinter zu einer problematischen, verharmlosenden und selbststilisierenden Absurdität machen:

Der Körper, dein individueller Körper, als Lebensraum und als Machtgefüge, als Zentrum der Produktion und des Energieverbrauchs ist zu einem neuen Hoheitsgebiet geworden, auf dem nun gewaltsame Grenzpolitiken, die wir seit Jahren gegenüber “den Anderen” entwickelt und erprobt haben, in Gestalt von Maßnahmen der Abschottung und des Kriegs gegen das Virus zum Einsatz kommen. Die neue nekropolitische Grenze hat sich von den griechischen Küsten an die heimische Wohnungstür verlagert. Lesbos beginnt jetzt auf deiner Schwelle. Und die Grenze hört nicht auf, sich um dich zusammenziehen, sie rückt dir immer enger auf den Leib. Calais springt dir jetzt ins Gesicht. Die neue Grenze ist die Maske. Die Luft, die du atmest, soll jetzt dir allein gehören. Die neue Grenze ist deine Epidermis. Das neue Lampedusa ist deine Haut.

Solch geschmacklose Stilisierung einer vermeintlichen neuen Prekarität aller zeugt von der Blindheit den eigenen Privilegien gegenüber und  ist angesichts der dramatischen und wirklich prekären Umständen der Refugees allgemein und besonders in der jetzigen Situation besonders problematisch. Der Grad an Ignoranz gegenüber anderen und die Selbstverliebtheit in dramatische Formulierungen lässt mich ratlos und wütend gleichermaßen zurück. Was diese Aussagen mit einer Analyse der Pandemie zu tun hätten wird darüber hinaus auch nicht klar, es handelt sich jedenfalls nicht nur um einzelne Sätze sondern widerkehrende Gedankengänge:

Die Grenzpolitiken, die strengen Maßnahmen der Einsperrung und Einschränkung der Bewegungsfreiheit, die wir in diesen letzten Jahren gegen Migranten und Flüchtlinge ergriffen haben, die uns als virale Bedrohung der Gemeinschaft galten, werden nun auf nationalem Hoheitsgebiet reproduziert, auf die Gesamtbevölkerung ausgeweitet und in den individuellen Körper eingeschrieben. Jahrelang haben wir Migranten und Flüchtlinge in Auffanglager gesperrt, in rechtsfreie Vorhöllen, in Dauerwartesäle, in denen sie jeder Staatsbürgerschaft beraubt sind. Jetzt sind wir es, die in den Auffanglagern leben, zu denen unsere eigenen Häuser geworden sind.

Was also vom Virus lernen?

Problematische, vor allem weil verallgemeinernde, Aussagen finden sich auch in den Teilen des Textes, die sich mit den neuen Technologien und deren Einfluss beschäftigen. So schreibt Preciado z.B:

Diese Mutation wird nun in der Coronakrise generalisiert und verstärkt: Unsere tragbaren Telekommunikationsmaschinen sind die neuen Kerkermeister, unsere eigenen vier Wände die weichen und ultravernetzten Gefängnisse der Zukunft.

Preciado will schließlich durch die Analyse verschiedener technologischer Einschnitte und den Referenzen zu seiner Dissertation über die Playboy-Mansion als Telekommunikations- und Kommunikationszentrum auf die Frage nach dem guten Leben, die er schon im ersten Text angesprochen hatte, zurück. Wie also in Zeiten der Pandemie und des Selbstisolation für politische Änderungen kämpfen und eintreten? Preciado sieht zwei Möglichkeiten, nämlich Unterwerfung unter den Virus oder Lernen vom Virus und unsererseits mutieren, also uns anpassen an die neue Gegebenheit.

Es muss uns gelingen, aus dem Stadium der erzwungenen in das der gewählten Mutation überzugehen. Wir brauchen eine kritische Wiederaneignung biopolitischer Techniken und ihrer pharmapornografischen Dispositive. Vor allem ist es unerlässlich, dass wir die Beziehungen unserer Körper zu den Maschinen der Biovigilanz und Biokontrolle ändern, und das betrifft nicht allein die Dispositive der Kommunikation. Wir müssen lernen, uns als Kollektiv zu verändern. Wir müssen lernen, die Entfremdung voneinander zu überwinden. Die Regierungen rufen uns zur Abschottung und zur Heimarbeit auf. Wir wissen, dass sie damit Entsolidarisierung und Telekontrolle meinen.

Wie aber die Technologien aneignen, möchte man fragen? Preciados romantisierte Antwort: Indem wir sie abschalten und darüber nachdenken. Vielleicht, so fragt man sich, sollte man jedoch eher mit den Technologien arbeiten, sie verstehen und nicht glauben dass diese beschriebenen Prozesse, Pandemie oder nicht, nicht schon seit vielen Jahren in allen möglichen Teilen der Welt und der Gesellschaften passieren, am Werk sind. Die Aneignung der Technologien wird vor allem durch aktivistische Gruppen die sich mit Technologien beschäftigen praktiziert. Preciado hingegen:

Nutzen wir die Zeit und die Kraft der Quarantäne, um die Traditionen des Kampfes und des Widerstandes der Minderheiten zu studieren, die es uns erlaubt haben, bis heute zu überleben. Schalten wir unsere Mobiltelefone aus, kappen wir die Internetverbindungen. Wagen wir im Angesicht der uns beobachtenden Satelliten den großen Blackout, und denken wir gemeinsam über die kommende Revolution nach. 

Wie wir ohne die digitalen Kommunikationskanäle gemeinsam nachdenken sollen lässt Preciado offen, und dass gerade sehr viele nicht nur nachdenken sondern sich aktiv organisieren, in Fabriken, den Wohnhäusern aber auch online, das interessiert wohl nicht weiter, eine Position wie ich sie auch schon bei Badiou kritisierte.

Konklusion

Zwischen dem Widerstandspathos des Textes und den überdramatisierenden Stellen der eigenen Situation, die zu einer Unmöglichkeit führt, über die unterschiedlichen Arten der (Mehrfach)Betroffenheit durch die Pandemie nachzudenken, finden sich auch spannende Thesen und wichtige Begriffsarbeit. Jedoch bleibt dabei dennoch ein übler Nachgeschmack, wenn so Sätze wie, „Das neue Lampidusa ist deine Haut“ oder auch die Häuser sind unsere „Auffanglager“ auch noch als theoretische Überlegungen verkauft werden sollen.

Die Pandemie erzeugt nicht nur neue Ungleichheiten, sondern verstärkt vor allem die schon bestehenden. Was für den einen ein paar ungemütliche Wochen sind, in denen leichte Einkommenseinbußen hinzunehmen sind, ist bei anderen existenzbedrohend. Die eingeschriebene Grenzpolitik in die einzelnen Körper ist dabei nicht durch die Pandemie passiert, aber sie wird durch die Pandemie intensiviert und noch bedrohlicher, aber nicht für alle Körper sondern eben vor allem für jene Körper, die – ob an der Grenze oder durch rassifizierte und klassifizierte Ausbeutungsprozesse innerhalb der Grenze – als jene Körper kategorisiert werden, um die es sich nicht zu kümmern und zu sorgen gilt. Eine, wenn auch nur sprachliche, Gleichmachung dieser unterschiedlichen Betroffenheiten spielt dabei genau der eigentlich kritisierten nekropolitischen Logik der tödlichen Exklusion in die Hände.

Literatur

Balibar, Étienne (2002). Politics and the Other Scene. London: Verso.

Khosravi, Shahram (2007). „‘Illegal’ Traveller. An AutoEthnography
of Borders“. Social Anthropology 15(3): 321–334.

Preciado, Paul (2020): Vom Virus lernen, Hebbel am Ufer (letzter Zugriff 11.04.2020).

Preciado, Paul (2020): The Losers Conspiracy. Art Forum (letzter Zugriff: 11.04.2020).

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