Im politisch ereignisreichen Jahr 1968, gab der saarländische Rundfunk ein experimentelles Hörspiel bei einem der vielversprechendsten Autoren Frankreichs, nämlich Georges Perec, in Auftrag. Der saarländische Rundfunk war damals an experimentellen Projekten höchst interessiert und versuchte insbesondere Fragen von technologischer Ästhetik zu bearbeiten (vgl. Klippert in Perec 1972, 81). Im Rahmen dieses Interesses wurden eine Reihe spannender Auftragswerke produziert, insbesonders durch die guten Verbindungen zu experimentellen Literatur Frankreichs, wurden in Deutschland noch unbekannte AutorInnen einem deutschsprachigen Publikum nähergebracht. Georges Perec, der damals noch hauptberuflich als Dokumentarist am Pariser Institut für Neurophysiologie arbeitete, und im Archv bereits mit Computern arbeitete, war von dieser neuen Technologie und ihrer Arbeitsweise höchst fasziniert. Als jüngstes Mitglied der “Werkstatt für potentielle Literatur” (Oulipo) beschäftigte er sich ausführlich mit sprachlichen Strukturen, formalisierter Lyrik und Sprachexperimenten.
Poesie-Maschine
Die Maschine, simuliert die Arbeitsweise eines Computers, oder zumindest wie die Arbeitsweise in 68 imaginiert wurde, dabei wird jedoch vor allem die Sprache selbst thematisiert. Als Basis des Experiments dient Goethes berühmtes Wanderers Nachtlied, das durch verschiedene “Programme” bearbeitet wird, die Hintergrundinformationen, Grammatik, phonologische Schlüssel, Zitate aus der Weltliteratur, uvm. zur Verfügung haben um sich dem Gedicht zu nähern, es zu bearbeiten, zu verfremden, damit zu spielen und die Vielfalt der Sprache aufzuzeigen.
Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.
Geleitet wird das Experiment von einer “Kontrolleinheit”, die stets vorgibt, welche sprachlichen oder inhalltichen Operationen vorgenommen werden um eine neue Version, eine neue Herangehensweise an das Gedicht zu erzeugen. Das besondere an Perecs Hörspiel ist jedoch, dass es schwer beschrieben werden kann, vielmehr muss es erfahren, gehört und mitvollzogen werden um seine Faszination ausüben zu können. Neben dem Hören des Stückes empfiehlt es sich daher auch den Text selbst mitzulesen, zumal die 1972 in Reclam erschienene gedruckte Version (die teilweise auch leicht verändert zur eingesprochenen Version ist) wie eine Partitur gelesen werden muss, und die Kreativität und Vielfalt des Hörspiels besser nachvollziehbar und mitverfolgbar macht.
Politik-Maschine
Goethes Gedicht wurde vielfach — mal mehr, öfters weniger ertragbar — vertont und bearbeitet, besonders relevant ist dabei Berthold Brechts Auseinandersetzung mit dem Gedicht, der in seiner Liturgie vom Hauch die entpolitiserte Romantik des Gedichts kritisiert, und vor allem das Schweigen, die alles dominierende Ruhe als Schweigen über Ungerechtigkeiten thematisiert:
Da kam einmal ein Polizist daher,
der hatte einen Gummiknüppel dabei.
Der zerklopfte dem Mann seinen
Hinterkopf zu Brei!
Da sagte auch dieser Mann nichts mehr!
Doch der Polizist sagte, daß es schallte:
So! Jetzt schweigen die Vöglein im Walde!
Über allen Gipfeln ist Ruh,
in allen Wipfeln spürest du kaum einen Hauch!
Die Ungerechtigkeit, die schließlich die Revolution selbst, in diesem Fall die Oktoberrevolution beendet, die Idylle muss gebrochen werden, die sich ankündende Unruhe ist die Ausbreitung des revolutionären Kampfes. So endet Brechts Gedicht:
Da kam ein großer roter Bär einher,
der wußte nichts von den Bräuchen,
denn er kam von überm Meer,
und der fraß die Vöglein im Walde!
Da schwiegen die Vöglein nicht mehr!
Über allen Gipfeln ist Unruh!
In allen Wipfeln spürest du jetzt einen Hauch!
Zitaten-Maschine
Perecs Hörspiel ist ebenfalls ein politisches. Neben dem sprachlichen und technik-reflektiven Elementen sind es auch politische Motive, die Perecs Hörspiel so relevant machen. Tatsächlich wurde Die Maschine genau in den Tagen aufgenommen, als in Paris die Aufstände von 68 ihren Höhepunkt erreichten (vgl. Schönherr, 446). Ulrich Schönherr versteht in seinem interessantem Artikel “Intermediale Grenzgänge: Technologie, Sprache und Musik in Georges Perecs Hörspiel Die Maschine” das Hörspiel klar als ein politisches, als ein mit 68 interagierendes politisches Projekt. Dabei scheinen vor allem zwei Aspekte zentral.
Einerseits geht es um die völlig rücksichtslose Bearbeitung der Maschine von einem Gedicht eines der Säulenheiligen der deutschsprachigen Literatur, Goethe, eine Bearbeitung, die in ihrer Struktur bereits die allgemeine Autoritätshörigkeit thematisiert. Die Maschine kann hier als bürokratisch-autoritäre Struktur verstanden werden, deren “Kontrolleinheit” die unbedingte Befolgung von Protokollen verlangt, egal ob sinnvoll oder nicht. Wie Schönherr treffend schreibt:
Trotz aller sprachexperimentellen Hermetik des Hörspiels gibt es darin aber auch Elemente, die eine Affinität zur Kultur der Protestbewegung verraten, deren Misstrauen gegenüber allen etablierten Macht- und Autoritätsinstanzen sich auch in Perecs respektlosen Umgang mit dem deutschen Kulturheroen Goethe und einem seiner berühmtesten Gedichte andeutet […] Die anti-autoritäre Haltung zeigt sich ferner im Verhältnis der Kontrollinstanz des Computers zu den drei untergebenen „Speichern,” welche die hierarchische Befehlsstruktur durch Verweigerung, Subversion, Obszönitäten und Ironie oft durchbrechen. Bei allem anarchischen Eigensinn der drei ‚Datenverarbeiter’ wird allerdings auch eine prekäre deutsche Mentalitätsgeschichte hörbar, die von Obrigkeitsdenken („ruhe ist die erste bürgerpflicht” DM, 20), über Nationalismen („… über alles in der welt” DM, 17), bis hin zum faschistischen „heil hi” (DM, 25) reicht; eine ideologische Konditionierung, die sich selbst gegenüber computationaler Programmierung als resistent erweist. (Schönherr, 447)
Zweitens thematisiert Perec auch die Möglichkeit einer Alternative, eines anderen, das jedoch nicht vordefiniert ist, wie bei Brecht, sondern nicht zuletzt in der Abwandlung der Sprache, in dem kreativen Umgang, in dem nicht intendierten, in dem zufälligen, in dem maschinischen und in dem spielerischen Umgang mit Sprache und Poesie zu finden ist. Wie Schönherr in Bezug zu Slogans der 68er Proteste zeigt, wird so die Materialität der Sprache als Möglichkeitshorizont selbst thematisiert:
Aber nicht jene oberflächlichen Referenzen auf die Politik, wie sie auch im zitierten Gedicht „Liturgie vom Hauch” von Brecht zum Ausdruck kommen, machen die Radikalität von Perecs Hörspiel aus. Revolutionär ist die Maschine nicht, weil sie etwa revolutionäre Inhalte transportierte, sondern weil sie ein radiophones Kunstwerk kreiert, das unsere Sinne und unseren Intellekt aus den Automatismen der Wahrnehmung und des Denkens befreit und uns auf spielerische Weise Einblick in das Funktionieren der Sprache verschafft – materielle Basis der Literatur und Poesie. Perecs Hörspielexperiment demonstriert, dass die Realität veränderbar ist, auch wenn sich hier die Wirklichkeit primär durch die Wirklichkeit der Sprache Goethes konstituiert, die allerdings unzählige Möglichkeiten eröffnet, diese durch alternative Sprachwelten zu verändern und zu transzendieren – ein Weg, der aus den selbstauferlegten Schreibzwängen zur Freiheit führt: “Sous les pave´s, la plage!“ (Schönherr, 447)
Schweige-Maschine
Das Aufbrechen fixer Strukturen, das Schweigen, die Stille, das “verstummen” wie es ganz zum Schluss heißt entfalten hier eine politische Kraft, die anders als bei Brecht die Zukunft offen lässt, als Feld multipler Virtualitäten konstruiert, die nicht sagen kann oder will was besser ist, was getan werden soll, die aber klar weiß, dass das alte, hergebrachte verändert, angegriffen, verfälscht, verfremdet, dekonstruiert werden muss. Statt einer Antwort auf Goethes Gedicht, liefert die Maschine eine “Zitatenexplosion” (Perec, 67), eine Vielfalt an möglichen Reaktionen und Antworten und doch steht kein Zitat am Ende sondern das Schweigen. Selbst die so kontrollierte Maschine, so scheint es am Ende von Perecs Stück bricht mit der Kontrollinstanz. Die Kontrollstimme ist nicht mehr als solche aktiv, sie ist nur noch eine Stimme unter vielen, alle Stimmen gemeinsam und durcheinander rezipieren das vielsprachige Schweigen. Gaz ähnlich zu dem was Deleuze schon in Kritik und Klinik über die Kraft des Schweigens in der Literatur schrieb:
Wenn die Sprache so gespannt ist, dass sie zu stottern, murmeln, stammeln … beginnt, rührt das Sprachliche insgesamt an eine Grenze, die dessen Außen hervortreten lässt und sich dem Schweigen aussetzt. Wenn die Sprache derart gespannt ist, erfährt das Sprachliche einen Druck, der es dem Schweigen preisgibt. (Deleuze 2002, 152f)
Das politische Potential, das Perecs Maschine mit den Maschinen von Deleuze und Guattari, gleichermaßen wie den Protesten von 1968 auf den Straßen Paris verbindet, ist das Brechen mit der Sprache, der Tradition, der Sprachregeln, der Kommunikation. Das was ich anderswo einmal die “Grammatik der stotternden Stille” nannte, ist was Perecs Maschine durchexerziert und was Deleuze andeutet als eine der Strategien im Kampf gegen die Kontrollstimme, oder wie Deleuze es nennt, die “Kontrollgesellschaften”:
“Das Wichtigste wird vielleicht sein, leere Zwischenräume der Nicht-Kommunikation zu schaffen, störende Unterbrechungen, um der Kontrolle zu entgehen.“ (Deleuze 1993, 252)
verstummen, paz, pst
Bibliographie(maschine)
Gilles Deleuze (1993): »Kontrolle und Werden« in: ders.: Unterhandlungen. 1972 – 1990, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 243–253.
Deleuze, Gilles (2002): »Stotterte er … « in: ders.: Kritik und Klinik, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 145–154.
Perec, Georges (1972): Die Maschine, Stuttgart: Reclam.
Schönherr, Ulrich (2014): “Intermediale Grenzgänge: Technologie, Sprache und Musik in Georges Perecs Hörspiel Die Maschine”, in: Monatshefte 106/3, S. 426–451.