Eine Bresche schlagen?
„Die neue Unordnung“ wurde 1968 direkt nach dem Höhepunkt der Proteste von Paris für den mit Castoriadis gemeinsam herausgegebenen Band „La bréche“ (Die Bresche) verfasst. Ganz bewusst schreibt Lefort diesen Text nicht aus der Sicht des neutralen Beobachters der über die Proteste zu urteilen hat sondern vielmehr aus der Sicht des von dem Ereignis überwältigten, mitgerissenen Theoretikers, der als engagierter Intellektueller nicht bloß ein Sympathisant der Proteste war sondern aktiv teilgenommen hat. Vielleicht ist es gerade diese teilnehmende Perspektive, diese dem Ereignis verfallene, vom Ereignis überfallene Schreibweise, die diesen Text zu etwas Besonderen macht. Auch wenn Lefort in einer Re-lektüre des Textes 20 Jahre später viele Aussagen zurücknimmt, und aus der Distanz im Rückblick eine nüchterne Darstellung vom Mai 68 versucht, ist es die gewisse Unmittelbarkeit des Textes aus 68 der ihn heute noch lesenswert und relevant macht. Auch wenn die euphorischen Aussagen aus heutiger Sicht nicht mehr adäquat erscheinen mögen sind viele Einschätzungen durchaus noch immer aktuell.
Der Buchtitel „Die Bresche“ geht auf einen Ausspruch von Daniel Cohn Bendit, damals einer der wichtigsten Köpfe der Proteste, zurück. Der Begriff meint, dass der Ausbruch der Proteste, die Ereignisse des Mai 68 eine Bresche in die französische Gesellschaft, in die institutionalisierte und verkrustete Politik und nicht zuletzt in die vorherrschende Ideologie, dass es keine Alternative zum Kapitalismus gibt, geschlagen hätte, eine Bresche, die ein klaffendes Loch in der vorherrschenden Wand der Herrschaft hinterlassen hat. Die Proteste haben das System nicht gestürzt, haben es nicht zum Zusammenbruch geführt, aber – und dies will uns Lefort in seinem Text anhand dieses Begriffes sagen – diese Proteste sind nicht spurlos an der vorherrschenden Ordnung abgeprallt. Selbst in ihrem Scheitern (sofern man überhaupt von einem Scheitern sprechen möchte) haben sie Spuren hinterlassen, eine Bresche eben. Auch wenn die Ordnung, die Herrschaft nun sofort versucht diese Bresche zu leugnen, diese Spuren zu verwischen und die Wand neu zu kitten, den Schleier der Unterdrückung neu zu weben, so wird diese Bresche nie ganz zu schließen sein, gewisse Spuren werden immer sichtbar bleiben. Auch wenn diese Aussage 1968 noch euphorisch-utopisch anmuten sollte, so sehen wir doch, dass selbst heute noch der Mai 68 seine Spuren im kollektiven Gedächtnis einer ganzen Generation, im Schaffen von Kultur und Kunst sowie in der Praxis Sozialer Bewegungen hinterlassen hat. Die politische Macht, die Ordnung, die Herrschaft mögen sich reterritorialisiert haben aber die Ereignisse haben Spuren hinterlassen, die Bresche konnte nie ganz geschlossen werden. Wenige Tage im Mai 68, so Lefort, haben ausgereicht um aufzuzeigen, dass die Ordnung nicht absolut, der westliche Kapitalismus nicht ewig sein muss, auch wenn die Ordnung nicht gestürzt wurde konnte in den wenigen Tagen der Pariser Unordnung aufgezeigt werden, dass die Ideologie der Alternativlosigkeit nur ein Mythos ist. Es ist dieser Gedanke, den Lefort so stark macht und der mir in meiner Beschäftigung mit den aktuellen Sozialen Bewegungen und Sozialen Protesten als äußerst relevant und höchst aktuell erscheint, so relevant das ganze Blog unter den Begriff der Bresche zu führen.
„Einige Tage reichten aus, um dem Mythos der Rationalität des vorhandenen Systems und der Legitimität der Machthaber einen Riss zuzufügen. Nur einen Riss? Vielleicht … Aber die Spur dieses Risses wird bleiben, auch nachdem der Schleier neu gewebt worden ist.“ (43)
Die Ereignisse des Mai 68 sind, so ist Lefort überzeugt, nicht mit einer „großen Geschichte“ erzählt, das ganze Ereignis 68 ist nicht unbedingt Teil einer großen Geschichte — mikro und makro, molar und molekulare Ebenen scheinen hier zu verschmelzen — es ist vielmehr der Punkt an dem aufgezeigt wird, dass es keine großen Erzählungen mehr gibt, wie Lyotard anhand seines Begriffes der Postmoderne schreibt. Damit bezieht sich Lefort nicht zuletzt auf die marxistischen TheoretikerInnen seiner Zeit, die in ihrer Theorie der Revolution, die von einem Subjekt betrieben wird, weder Sympathie für die Protestierenden erübrigen konnten, noch diese Ereignisse in ihre Theorie miteinbeziehen konnten. Dass die Proteste auf den Universitäten begonnen hatten passte hier nicht in die Theorie und wurde daher ignoriert und kritisiert. Doch für Lefort sind es die Vielzahl der kleinen Geschichten, die vielen Unmöglichkeiten die diese Revolte im Vorhinein nicht denken ließen, die so faszinierend an 68 sind. Lefort fordert auf, nicht zu kritisieren dass die Proteste an den Universitäten ihren Ursprung genommen haben, sondern vielmehr zu versuchen zu verstehen, was das Neue an den Protesten war, dass es möglich war dass sie sich von den Universitäten auf die Gesellschaft ausgebreitet haben (vgl. 47).
Neu und zentral für Lefort ist dabei die anarchistische Struktur dieser Proteste, ohne führende Köpfe, ohne Partei und ohne Programm ging es einzig und allein darum in direkten Aktionen eine Bresche zu schlagen. In den Worten Leforts:
„Kein Programm, keine Perspektive, kein Ziel in dem Sinn, in dem man diese Begriffe in einer Partei versteht, sondern die Idee, dass es durch die direkte Aktion, durch die Provokation, durch die Ablehnung des Gesetzes der Universität möglich sei, gewaltsam einen Durchbruch zu schaffen oder einen Würgegriff zu lockern, die Grundlagen eines Spiels zu ändern, welches die Spieler wie im Halbschlaf und murrend fortsetzen, als ob sie für alle Ewigkeit darauf festgelegt wären, und folglich einen für das Funktionieren des gesellschaftlichen Systems wesentlichen Mechanismus zu stören. Es scheint, dass diese Vorstellung sehr schnell in einem weiten Kreis behauptet: Eine Bresche schlagen, so lautet, einem Ausdruck von Cohn-Bendit folgend, die bald erkannte Aufgabe.“ (47f)
Es ist die Kühnheit der Protestierenden die Lefort fasziniert, das Handeln ohne Verantwortung, nicht an Morgen denkend und nicht an politische Forderungen geknüpft, handeln die Protestierenden in der direkten Aktion nach dem Prinzip der „Wahrheit des Augenblicks“ (51). Diese Losgelöstheit von Forderungen, Parteien und Programmen führt für Lefort zu dieser starken fluiden Kraft des Ereignisses, eine Kraft die sich auch und vor allem in die symbolische Ebene einschreibt. Michel De Certau hat hier sogar von der „symbolischen Befreiung der Sprache“ in den Ereignissen des Mai 68 geschrieben. Die Proteste agieren dabei ganz unmittelbar ohne jedoch den Bezug zum Großen zu verlieren. Die konkrete Erfahrung der Repression verweist auf ähnliche Repressionsformen überall in der Welt so Leforts gewagte These (vgl. 58). Doch der Aufstand beginnt hier und jetzt. „Aber ihre Kraft liegt darin, dass sie die Politik in ihrer unmittelbaren Nähe, in der Welt, in der sie tagtäglich leben, entziffern können.“ (58).
Für Lefort ist es eben demnach kein Zufall, dass die Proteste an der Universität ihren Ausgang genommen haben, denn die Universität, so Lefort, dient dazu gesellschaftliche Ungleichheiten zu institutionalisieren, ja geradezu zu lehren, doch – und das ist ein besonders wichtiger Punkt – verschleiert die Universität diese Aufgabe, ja verschleiert die grundlegende Spaltung der Gesellschaft. Natürlich gibt es Ausnahmen und natürlich ist dieses Bild nicht verallgemeinerbar aber für Lefort ist es zumindest ein weit verbreitetes Muster nach dem die Universitäten agieren. Lefort schreibt dazu:
„Die Universität arbeitet daran, die Teilung zwischen Führenden und Ausführenden natürlich zu machen, zwischen denen, die wissen, und denen, die nicht wissen, die Abschottung der Aktivitäten, die Festlegung eines jeden auf seine Funktion, die strikte Trennung des Öffentlichen und des Privaten, der beruflichen Aktivität und des politischen Lebens, so dass das Gesetz des modernen Kapitalismus überall Gehorsam findet – was sowohl Übernahme von Herrschaft als auch Fügung unter Autorität bedeutet.“ (63)
Die Autorität der Universität und innerhalb der Universität zu hinterfragen, ja anzufechten bedeutet daher für Lefort auch die Autorität der Gesellschaft, des westlichen kapitalistischen Systems in gewisser Art und Weise zumindest in Frage zu stellen, ein Grund warum die Proteste also von der Universität auf andere Bereiche Ausbreitung erfuhren.
Die Ereignisse von 68 sind für Lefort also revolutionäre Ereignisse, Ereignisse die eine Bresche geschlagen haben, Risse hinterlassen. Diese Spuren der Proteste sind nicht nur im politischen Bereich zu finden sondern, wie bereits erwähnt auch im kulturellen Bereich und in zahlreichen anderen. Eine Revolution wirkt immer auf zahlreichen Ebenen. „In Wahrheit gibt es keine Revolution, die nicht zugleich politisch, wirtschaftlich und kulturell ist.“ (67) Doch selbst in diesem euphorischen Text aus 68 ist sich Lefort bewusst, dass das System nicht gestürzt wird, vielleicht konnte die Ordnung kurz ins Chaos, in Unordnung gestürzt werden, doch es wird keine neue Ordnung geben, die alte Ordnung kann sich wieder reterritorialisieren. Doch so ist Lefort überzeugt, bleiben die Spuren der revolutionären Ereignisse 68, die Ordnung wird nie wieder ganz die gleiche sein können, und es bleibt die Erfahrung der Proteste, die Erfahrung, dass — wenn auch nur für kurz — jede Ordnung, selbst die der liberaldemokratischen westlich-kapitalistischen Staaten ins Wanken gebracht werden kann. Gerade diese Verbindung zur institutionalisierten, repräsentativen Demokratie des Westens ist Lefort wichtig, und ist heute – besonders in Bezug zu den aktuellen Sozialen Bewegungen – von großer Aktualität. Wenn im Lefortschen Demokratieverständnis, Demokratie ein System ist, in dem der Ort der Macht symbolisch stets leer gehalten wird, also z.B. mit der Wahl eine symbolische Köpfung der Herrschenden institutionalisiert ist, wenn also Demokratie als Staatsform, das System ist das sich selbst ständig verändern sollte, ständig die Herrschenden entmachten sollte (um neue Herrschende einzusetzen), ist dann eine Revolution, eine Veränderung, nicht zuletzt ein Ereignis überhaupt noch möglich? „Die Frage der Gegenwart ist die: Kann die Revolution noch im Mythos einer Gesellschaft geträumt werden, die die Revolution zu ihrer Institution gemacht hat – im Mythos einer Macht, die die Macht der Machtlosen wäre?“ (71) Lefort selbst wird später den Begriff der Revolution verwerfen, sich der Demokratie als permanenten Prozess zuwenden (was zum Zerwürfnis mit Castoriadis beitragen wird). Doch seine positive Schlussfolgerung aus 1968, die wird uns noch weiter beschäftigen. Denn eine institutionalisierte Demokratie, verstanden als Staatsform kann eben keine ständige Revolution durchführen, ist mehr eine polizeiliche Ordnung im Sinne Rancières. Doch der Widerstand gegen diese Verkrustung, gegen die Zentrierung der Macht auf einige wenige, auf demokratisch nicht legitimierte, dieser Widerstand wird immer wieder aufbrechen, und er wird eine Bresche schlagen. So wie es in den Ereignissen der letzten Jahre auch der Fall war. So liest sich Leforts Fazit wie eine Antwort auf die neuen Sozialen Bewegungen:
„Die Macht, an welchem Ort auch immer sie zu herrschen anstrebt, wird Gegner finden, die jedoch nicht bereit sind, eine bessere Macht einzurichten. Die Gegner werden immer bereit sein, die Pläne einer Gesellschaft zu stören, die sich in ihrer Selbsttäuschung verschließt und die Menschen in ihren Hierarchien gefangen hält. Sie werden die Gelegenheit ergreifen, kollektive Initiative zu fördern, Mauern einzureißen, Dinge, Ideen, Menschen in Bewegung zu bringen, jeden dazu aufzufordern, sich Konflikten zu stellen, anstatt sie zu verschleiern.“ (71)
Literatur
Lefort, Claude (2008): Die Bresche. Essays zum Mai 68. Wien: Turia + Kant.
[…] Leforts neue Unordnung — zum Begriff der Bresche » […]
[…] Das Lefort in anderen aber auch in den hier besprochenen Texten natürlich ein wesentlich breiteres Verständnis von Politik und insbesondere von Demokratie entwickelt sei hier zum Abschluss betont, denn nicht umsonst ist das ganze Blog nach seinem theoretisierten Begriff der “Bresche” benannt. Mehr dazu gibts hier. […]