eXodus

Der Exit besteht also in einer unbefangenen Erfindung, die die Regeln des Spiels abändert und die Kompassnadel des Gegners zum Rotieren bringt.” (Paolo Virno, Grammatik der Multitude, 97f)

Der so genannte „Twitter Exodus“ ist seit der Übernahme von Elon Musk in immer wieder aufbrandenden Wellen zu beobachten und gerade nach der US-Amerikanischen Wahl ist eine weitere Welle eines solchen Exodus, eines Auszugs aus dem verheißenen Land der begrenzten Zeichen, zu beobachten. Bedeutende Medien (allen voran der Guardian) haben sich von „X“ verabschiedet, öffentliche Institutionen genauso wie eine Reihe österreichischer Journalist*innen, aber auch zahllose andere verlassen „X“ oder legen ihre Accounts still.

Erfreulicherweise hat nachdem die Universität Wien letzte Woche ihren Account stillgelegt hat nun auch eine eigene Initiative unter österreichischen Wissenschaftler*innen im Rahmen eines heute veröffentlichten offenen Briefes (der hier runtergeladen werden kann) die eigene Abkehr von „X“ angekündigt und gleichzeitig einen Aufruf an österreichische Forschungsstätten gestartet, ebenfalls „X“ zu verlassen. Mit großer Freude habe ich diesen offenen Brief mitunterzeichnet und lege hiermit auch meinen „X“-Account still.

Der offene Brief erwähnt zahllose gute Gründe, warum solch ein Schritt notwendig wurde und sinnvoll ist. Und auch wenn ich selbst den genannten Gründen noch zahllose hinzufügen könnte (eine Vielzahl von denen gelten auch für die meisten anderen Sozialen Medien) muss ich dennoch zugeben, dass mir dieser Schritt gar nicht so leichtgefallen ist, auch oder vielleicht gerade weil ich in den letzten Jahren „X“ kaum mehr genutzt habe, weder passiv noch aktiv. Im Folgenden möchte ich zunächst einige persönliche Bemerkungen, warum mir dieser Rückzug nicht so leichtgefallen ist, teilen. Dem Eingangszitat folgend, möchte ich jedoch daran anschließend diesen kollektiven Rückzug von Twitter auch in einen theoretischen Rahmen reflektieren. Dabei soll der heutige Akt keineswegs als politisch schlagkräftig stilisiert werden, vielmehr gilt es die Möglichkeit der Schlagkraft des allgemein zu beobachtenden kollektiven Exodus zu diskutieren. Abschließend soll auf zentrale Alternativen (vor allem das Fediverse) hingewiesen werden, denn ein bloßes Umziehen auf eine der anderen gewinnorientierten Social-Media-Plattformen löst die bei „X“ so deutlich zum Vorschein gekommenen Probleme nur temporär wenn überhaupt.

Twitter brennt

Ich habe gerade hier auf dem Blog des Öfteren über die Bedeutung von Social Media für aktuelle Soziale Bewegungen geschrieben und dabei ganz besonders die Rolle von Twitter für die für mich selbst so prägende #unibrennt Bewegung reflektiert. Meine eigene Nutzung von Twitter hängt direkt mit #unibrennt zusammen, bin ich doch gerade während den Protesten mit dieser Plattform erstmals ernsthaft in Berührung gekommen, und habe durch #unibrennt vom passiven Lesen einiger bekannter Accounts selbst aktiv zu posten begonnen. Das schnelle Verteilen von Informationen ermöglichte schnelle Kommunikation und zum Beispiel auch bei dezentralen Blockadeaktionen oder über die Stadt verteilten Demonstrationen einen Überblick zu bewahren. Inwiefern also Twitter ein zentraler Bestandteil von #unibrennt war und inwiefern dies nicht nur positiv ist, sondern auch Probleme mit sich bringt habe ich hier näher ausgeführt. Über #unibrennt hinweg ist die Rolle von Twitter in Sozialen Bewegungen eine vielfältige und spannende oftmals auch überschätzte, aber definitiv eine, die es wert ist analysiert zu werden. Einige Literaturtipps dazu sind am Ende dieses Beitrags zu finden.

Doch auch im akademischen Austausch und im Sammeln von spannenden Artikeln, Publikationen und Podcasts zu allen möglichen Themen hat sich Twitter für mich lange bewährt. Ich habe es zwar auch benutzt, um auf meine eigenen Blogposts oder Publikationen anzukündigen, sehr viel produktiver waren für mich jedoch die vielen spannenden Accounts die ich in den vielen Jahren auf Twitter entdecken durfte und damit verbunden die oftmals auch überfordernde Menge an Literatur und Verweise, auf die ich durch diese Accounts und ihr tägliches Posten gestoßen bin.

Damit Twitter auch jenseits von gerade aktuellen Hashtags spannend war, brauchte es vor allem aktives Kuratieren. Welche Accounts sind in meinem Feld von Interesse und welche Accounts posten überwiegend interessante Dinge? Hatte man solch eine Kuratierung begonnen, kamen neue interessante Accounts durch Retweets und Empfehlungen wie von selbst dazu. Das Kuratieren war daher selbst bei denen die nicht selbst posten, sondern überwiegend lesen die zentrale Aufgabe um sich das Medium anzueignen.

Je mehr die Anzeige von dieser „selbst-kuratierten“ Timeline zu einer „algorithmisch-beeinflussten“ wurde, desto mehr verlor Twitter an Attraktivität. Auch wenn viele dadurch in die Timeline gespülten Tweets und Accounts durchaus passend und interessant waren, immer mehr waren es nicht. Dieses Problem ist in nahezu allen Social Media Plattformen zu finden und verbindet Fragen von Echokammern, Biases der Algorithmen, ökonomische Interessen der Plattformen, Aufmerksamkeitsökonomie und vieles mehr.

Kurz: auch wenn ich persönlich Twitter/X schon seit längerer Zeit kaum noch benützt habe, ist Twitter für mich stark mit oben beschriebenen Erlebnissen und Zeiten verknüpft. Mit „X“ verbinde ich vor allem das Ende dieser spezifischen Zeit. Das Twitter also mittlerweile „X“ heißt, macht mir persönlich den Abschied leichter. Doch ist ein Rückzug überhaupt die richtige Strategie?

Rückzug als Angriff — der kollektive Exodus

Ich will das bloße Stilllegen eines Social Media-Accounts in keiner Weise als besonders spannenden, wichtigen oder gar radikalen politischen Akt überbewerten. Dennoch hat mich der Begriff des „Twitter-Exodus“ an Überlegungen der politischen Theorie erinnert, die vielleicht einen interessanten Bezugspunkt darstellen könnten. Denn das Stilllegen oder Accounts-Löschen ist mehr als ein Zurückziehen, oder ein bloßes Ende der Unterstützung einer Plattform wenn es sich um einen kollektiven Exodus handelt.

Paolo Virno, einer der zentralen Theoretiker des Postoperaismus, hat wie kaum jemand sonst den Exodus als politische Methode und Strategie beschrieben. Für Virno ist der Exodus, das Zurückziehen, kein Herausnehmen, kein sich aus der Affäre ziehen. Vielmehr ist der Exodus selbst ein Angriff, ein Angriff auf den Status Quo und dessen Bedingungen. Dies ist vor allem der Fall, wenn der Auszug ein kollektiver ist, die Verweigerung eine gemeinsame. Ein kollektiver Exodus kann nämlich ein Weiter-wie-bisher verunmöglichen. Virno:

Disobedience and flight are not in any case a negative gesture that exempts one from action and responsibility. To the contrary, to desert means to modify the conditions within which the conflict is played instead of submitting to them. (Virno, About Exodus, 20)

Nochmals sei betont, dass ich den Twitter-Exodus hier keineswegs politisch überbewerten möchte oder romantisch stilisieren. Ein kollektiver Auszug ist aber, und dies ist Virnos Lektion, nie bloß ein Entzug, ein Zurückziehen sondern eben auch ein Angriff. Schließlich entzieht ein kollektiver Exodus der Plattform das, was die Plattform am meisten will, Aufmerksamkeit, Interaktion und noch mehr Daten. Der Exodus ist damit ein direkter Angriff auf die Logik der Plattform. Social Media lebt davon, dass wir damit interagieren, Zeit dort verbringen, Daten generieren und gesponserten Content konsumieren. Zumindest eine privatwirtschaftlich ausgerichtete Plattform zieht daraus ihren Profit. Musk hat Twitter vor allem im letzten Jahr nicht mehr alleine nach ökonomischen Aspekten geführt, die Plattform, die eingesetzten Algorithmen und die forcierte Interaktion mit der Plattform folgen nicht mehr alleine gewinnorientierten Logiken, sondern auch partei-politischen. Dies ist nur konsequent. Denn alle Plattformen ob explizit oder zumeist implizit folgen politischen Logiken, „X“, wie “Truth Social” ist diesbezüglich zumindest explizit.

Marshall McLuhans berühmter Ausspruch „The medium is the message“ wird bei „X“ besonders deutlich. Nicht so sehr weil das Medium vorgibt was geschrieben werden kann, hier gibt es sich vermeintlich frei und „liberal“, sondern in Bezug auf die Sichtbarkeit der Postings. Denn was gepusht wird, was viele zu lesen bekommen oder was unter der Flut der Postings untergeht und kaum jemanden angezeigt wird ist ein essentieller Teil des Mediums selbst. Noch passender ist dabei McLuhans eigene Abwandlung „the medium is the massage“, das darauf hinweist, dass es nicht nur um fixierte Regeln geht, sondern um Praktiken und ein ständiges Performieren dieser ausgesprochenen und impliziten Normen und Regeln, ein „Eindrücken“, ein Formen, ein ständiger Prozess des „Einmassierens“ dieser Normen.

Der Exodus entzieht sich diesem künstlichen Einengen der Diskursräume, aber wirklich effektiv ist er nur, wenn er sich nach dem Auszug nicht verliert sondern auch zu neuen Ufern führt, Alternativen sucht, kurz neue Diskursräume kreiert.

Auszug ja, aber wohin jetzt?

Virnos Überlegungen zum Exodus enden natürlich nicht in der Einsicht der destruktiven Kraft eines Exodus sondern vielmehr betont er auch und vor allem die produktive, schöpferische Seite des Exodus. So liest sich oben bereits erwähntes Zitat weiter:

Disobedience and flight are not in any case a negative gesture that exempts one from action and responsibility. To the contrary, to desert means to modify the conditions within which the conflict is played instead of submitting to them. And the positive construction of a favorable scenario demands more initiative than the clash with pre-fixed conditions. An affirmative “doing” qualifies defection, impressing a sensual and operative taste on the present. The conflict is engaged starting from what we have constituted through fleeing in order to defend social relations and new forms of life out of which we are already making experience. To the ancient idea of fleeing in order to better attack is added the certainty that the fight will be all the more effective if one has something else to lose besides one’s own chains. (Virno, About Exodus, 20)

Der Auszug, die Verweigerung von „X“ stellt die Frage „wohin nun?“. Social Media ganz lassen? Zu einer der zahllosen anderen Plattformen wechseln nur um womöglich in wenigen Jahren ähnliche Probleme zu haben? Wo ist dieses affirmative „doing“ zu finden, von dem Virno redet, wo im Bereich der Social Media wäre solch eine andere, nicht kommerzielle, nicht algorithmisch geleitete und überhaupt grundlegend anders konzipierte Art der wirklich „sozialen“ Medien zu finden?

In meinen Augen braucht hier nichts Neues „erfunden“ werden, denn die Alternative ist bereits seit einigen Jahren da. Das Fediverse und besonders Mastodon stellen in vielerlei Hinsicht genau diese Art von notwendiger Alternative dar, die den Exodus von „X“ zu einem schlagkräftigen Akt machen kann. Ich kann hier nicht auf die Geschichte und technischen Besonderheiten des Fediverse eingehen noch eine theoretisch fundierte Betrachtung abliefern (hierzu empfehle ich Raimund Minichbauers Text “Strategien nach Social Media”). Ich möchte jedoch betonen, dass die technische Struktur dieser Plattform eine völlig andere ist, eine in der Daten dezentral verwaltet werden, es Autonomie über die eigenen Daten ja sogar über die eigenen Spielregeln des Diskurses (Moderationsregeln unterschiedlicher Instanzen) gibt, eine Plattform also die grundsätzlich nicht von einer Stelle vereinnahmt werden kann.

Mastodon und das Fediverse sind durchaus weniger intuitiv gestaltet, bombardieren niemanden der dort einen Account startet mit zigtausend „Empfehlungen“ und einer algorithmisch individualisierten Timeline. Es braucht Aufwand, Geduld und viel Zeit um sich seine eigene Timeline zu kuratieren, doch dafür bietet es Autonomie über eben jene Timeline. Das, was Twitter für mich persönlich während #unibrennt war, nämlich eine Plattform, in die ich viel Zeit gesteckt habe um mir die Accounts herauszusuchen, denen ich auch wirklich folgen möchte, das verlangt auch Mastodon. Keine Fast Food Social Media, wo alles schnell eingerichtet ist und man sofort mit Millionen Posts konfrontiert ist, immer was Neues erscheint, wenn man auf Aktualisieren drückt, ein ständiger Strom an Content über einen hereinschwemmt … all das ist Mastodon nicht. Gerade deswegen eröffnet es neue Möglichkeiten. Es verlangt sich selbst über die eigene Timeline Gedanken zu machen, über die Moderationsregeln die man möchte, ja über die Instanz der man angehören möchte. (Einen Einblick in eine Forschungsgruppe dazu, der ich selbst angehöre, bietet der Account “Fediplomicy”) Es verlangt eine völlig andere Art der Subjektivierung, wie Susha Niederberger in „Calling the User“ sehr treffend beschreibt.

Der Exodus aus „X“ muss eben nicht in einem kompletten Rückzug aus den Sozialen Medien enden, vielmehr wird der Exodus nur dann effektiv und schlagkräftig, wenn wir auch über Alternativen nachdenken, über das, was Social Media eigentlich leisten soll und kann, über die Regeln und Strukturen die solch ein Medium haben soll und über unsere eigene Komplizenschaft in den Entwicklungen von Social Media. Diese Alternativen brauchen Arbeit und Unterstützung, denn sie haben nicht das Investitionskapital des Silicon Valley hinter sich, sind nicht kommerzialisierbar, leben nicht von Werbeeinnahmen. Die Alternativen leben vielmehr von dem Engagement und der Arbeit vieler. Andere Social Media ist möglich und sie ist bereits da, nun gilt es sie zu unterstützen und sich einzubringen.

Weiterführende Literatur

zitierte Literatur

  • Virno, Paolo (2005): Grammatik der Multitude. Wien: turia+kant.
  • ders. (2005): “About Exodus”, in Grey Room 21, 17–20. (online verfügbar)

Literatur zu Social Media und Sozialen Bewegungen

  • Carty, Victoria (2018): Social Movements and New Technology. Routledge: London.
  • Feldstein, Steven (2021): The Rise of Digital Repression: How Technology is Reshaping Power, Politics, and Resistance. Oxford: Oxford Univ. Press.
  • Fuchs, Christian (2013): Occupymedia!: The Occupy Movement and Social Media in Crisis Capitalism. Alresford: zero books.
  • Gerbaudo, Paolo (2012): Tweets and the Streets. Social Media and Contemporary Activism. London: Pluto Press.
  • Howard, Philip/Muzammil Hussain (2013): Democracy’s Fourth Wave?: Digital Media and the Arab Spring. Oxford: Oxford Univ. Press.
  • Milan, Stefania (2013): Social Movements and Their Technologies: Wiring Social Change. Basingstoke: Palgrave Macmillan.
  • Murthy, Dhiraj (2013): Twitter. Social Communication in the Twitter Age. Cambridge: Polity.
  • Owen, Stephan (2017): “Monitoring social media and protest movements: ensuring political order through surveillance and surveillance discourse”, in: Social Identities 23/6, pp. 688–700.

Literatur zu Mastodon und dem Fediverse

  • Anderlini, J., & Milani, C. (2022). Emerging Forms of Sociotechnical Organisation: The Case of the Fediverse. In E. Armano, M. Briziarelli, & E. Risi (Eds.), Digital Platforms and Algorithmic Subjectivities (pp. 167–181). University of Westminster Press. https://doi.org/10.16997/book54.m
  • He, J., Zia, H. B., Castro, I., Raman, A., Sastry, N., & Tyson, G. (2023). Flocking to Mastodon: Tracking the Great Twitter Migration. Proceedings of the 2023 ACM on Internet Measurement Conference, 111–123. https://doi.org/10.1145/3618257.3624819
  • Niederberger, S. (2023). Calling the User: Interpellation and Narration of User Subjectivity in Mastodon and Trans*Feminist Servers. A Peer-Reviewed Journal About, 12(1), 177–191. https://doi.org/10.7146/aprja.v12i1.140449
  • Minichbauer, Raimund (2024): “Strategien nach Social Media”, in transversal. 
  • Mansoux, A., & Abbing, R. R. (2020). Seven Theses on the Fediverse and the Becoming of FLOSS. In K. Gansing & I. Luchs (Eds.), ETERNAL NETWORK. (pp. 124–140). INSTITUTE OF NETWORK CULT.
  • Matteo Zignani, S. G. (n.d.). Follow the “Mastodon”: Structure and Evolution of a Decentralized Online Social Network. AAAI. Retrieved February 23, 2024, from https://aaai.org/papers/00541–14988-follow-the-mastodon-structure-and-evolution-of-a-decentralized-online-social-network

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