Dieser Beitrag ist Teil der Coronavirus und die Philosophie Serie. Einen Überblick über die weiteren Teile dieser Blogbeitragsserie gibt es hier.
Der 1. Mai ist traditionell ein wichtiger Tag der Aufmärsche und Proteste. Weltweit werden heuer die Straßen leerer sein und die Proteste leiser. Selbst in den Ländern, in denen eine langsame Lockerung der Maßnahmen und damit eine schrittweise Öffnung passiert, ist ein großer Aufmarsch, dicht gedrängt unvorstellbar. Dass der 1. Mai dennoch gefeiert und begangen wird steht außer Frage und in den verschiedensten Städten bereiten sich unterschiedliche Gruppen auf eine ganze Reihe von Kundgebungen und Proteste mit social distancing, Masken und sonstigen notwendigen Vorkehrungen vor. So z.B. die Mayday Parade in Wien oder auch andere Kundgebungen wie die 10 ‑Jahres Feier des Boem.
In meinem letzten Beitrag habe ich mich bereits etwas ausführlicher mit der Frage des Protestes in Zeiten der Pandemie beschäftigt, über Möglichkeiten und Probleme von Demos und Kundgebungen ohne Ansteckungsgefahr und den Tücken von reinem Online-Protest nachgedacht. Dabei habe ich mich auch mit dem Unterschied verschiedenster linker und progressiver Kundgebungen, die für eine Sache demonstrieren, dabei jedoch nicht den Virus verbreiten wollen und andere in Gefahr bringen wollen und den immer zahlreicher werdenden unterschiedlichen rechten und vermeintlich apolitischen Protesten von verschiedensten Gruppierungen gegen die Pandemie-Maßnahmen selbst, geschrieben.
Es geht nicht darum, die Gefahren des Virus zu ignorieren, sondern jene Gefahren aufzuzeigen, denen Menschen immer, und seit Ausbruch des Virus verstärkt, ausgesetzt sind.
(Aus dem Demo-Aufruf der Mayday-Wien)
Es bleibt offen und schwer einzuschätzen wann große Proteste wieder möglich sein werden, notwendig sind sie es jetzt schon. Trotz zahlloser kreativer und auch radikaler Proteststrategien linker und progressiver Gruppierungen, die nicht zu einer Verbreitung des Virus beitragen, bekommen die rechten Proteste gegen die Maßnahmen oftmals mehr Aufmerksamkeit, sei es weil sie skurril sind und dabei absurde und krude Verschwörungstheorien verbreitet werden, oder weil sie besonders martialisch und gewaltsam auftreten (wie z.B. diese Tage in Michigan). Die Teilnehmerzahl dieser Proteste bleibt dennoch überschaubar. Die größten Proteste jedoch, die es derzeit gibt, sind nicht gegen die Maßnahmen und für mehr „individuelle“ Freiheiten, sondern genau gegen den Zwang rausgehen zu müssen und in den Fabriken und Lagerhallen der großen Konzerne ohne die nötigen Schutzmaßnahmen arbeiten zu gehen. Momentan beginnt eine nicht zu unterschätzende Streikwelle, Protestkundgebungen also, die darauf hinweisen, dass es nicht darum geht dass niemand rausgehen darf, sondern darum, dass selbst in stark betroffenen Regionen viele rausgehen müssen (Siehe dazu auch meinen Beitrag zur Kontrollgesellschaft).
wer Arbeiten muss – muss auch Demonstrieren dürfen – muss auch Wählen dürfen! (
(Aus dem Kundgebungsaufruf des Boem)
In diesen Quicktakes möchte ich daher einige kurze Anmerkungen zu Texten zusammentragen, die sich ebenfalls mit den Problemen und Möglichkeiten von Protesten in diesen Zeiten beschäftigen, verschiedenste Beispiele sammeln und darüber hinaus soll auch die Frage der Ungleichheit und die Rolle von Institutionen in aller Kürze angesprochen werden. Hierzu gibt es Texte über Protest und Organisation international, fokussiert auf den deutschsprachigen Raum, die Frage der Ungleichheit in der Pandemie und der Stärkung autoritärer Politik sowie Ausschnitte aus den Kundgebungsaufrufen zum 1. Mai vom Boem und der Mayday-Wien.
Protest und Organisation
Bernd Bonfert — “Organizing under lockdown: online activism, local solidarity” (Roar.org — 9.April 2020)
Selten genug gibt es positive und optimistische Artikel die es sich in diesen Zeiten zu teilen lohnt. Bonferts Text ist hier anders, weil er versucht die vielen Wege und Mittel der sozialen und politischen Organisation und des Aktivismus, die gerade stattfinden, zu sammeln und damit auch sichtbar zu machen. Wie oft liest man in den Artikeln der Denker*innen, dass es genau jetzt, in der Phase der Selbstisolation und der allgemeinen Krise des Neoliberalismus die Zeit wäre über das Nacher nachzudenken (so z.B. Badiou), sich zu sammeln und für ein Nacher zu organisieren. Bonfert sammelt nun die vielen initiativen die es schon gibt (zumindest zum Zeitpunkt der Publikation), und die, oft unbemerkt, bereits laufen. Von online Aktivismus, der Verlegung der Fridays for Future auf Online Demos, von Demos mit social distancing, zu besetzen Häusern in Berlin, organisierter Nachbarschaftshilfe in Griechenland, von Streiks in Italien und Mietenstreiks in den USA zu einem möglichen wachsenden Klassenbewusstsein der Arbeiter*innen, jener jetzt so viel beklatschten essentiellen oder „systemrelevanten“ Arbeitsbereiche. Die Versuche online aktiv zu werden, aber eben auch in der Nachbarschaft sind dabei genauso im Fokus wie die Organisation zukünftiger Aktionen. Bonferts Artikel gibt hierüber aber nicht nur einen Überblick, sondern versucht auch Ideen und Referenzen für die eigenen politischen Arbeiten zu liefern:
We need to use the current phase to prepare for these struggles. Online activism can enable us to expand our networks and reach new audiences. Local solidarity can alleviate the worst impact of the pandemic and get new people engaged in a movement for collective social and economic reproduction. And by relying on the newfound structural power and public solidarity of “essential workers” we can put pressure on companies and governments to implement changes they would have never agreed to before. As people across Europe are already demonstrating, we can do all of these things at a safe social distance. Even under quarantine, we can continue to fight capitalism.
Dass dabei natürlich auch eine Brise an Widerstandsromantizismus zu finden ist und einzelne Aktionen wie auch die momentane Situation etwas zu positiv oder zu optimistisch beurteilt wird, darf nicht übersehen werden. Auch dass momentan auch viele organisierte Proteste der wirtschaftsliberalen Rechten (vor allem in den USA) passieren, Protest momentan also wie sonst auch nicht exklusiv progressiven Anliegen eigen ist, wird im Artikel nicht wirklich bearbeitet. Dennoch ist es auch wichtig den Fokus auf passierende Experimente des sozialen Widerstands unter einem Pandemie-Regime zu legen.
Ist der Protest zu ‘brav’?
Lotte Laloire — Brav und verboten (Neus Deutschland — 11.April 2020)
Lotte Laloire widmet sich in ihrem Artikel für Neues Deutschland ebenfalls der Frage der Organisation und des Protests in Zeiten der Pandemie, und beleuchtet dabei vor allem soziale Bewegungen in Deutschland. Im Fokus steht dabei besonders die Demonstrationen in Frankfurt, die, obwohl sie mit dem geforderten Abstand untereinander protestierten und so auf die katastrophale Situation von Refugees in Moria aufmerksam machten, gewaltsam von der Polizei (ganz ohne den nötigen Abstand) geräumt wurden. Inwiefern solche Reaktionen auf wie Laloire es nennt „brave“ Protestformen zu einer Radikalisierung von Protesten und Bewegungen führen oder genau gegenteilig zu einem weiteren Rückzug, wird man sehen. Dass die Frage der internen Kommunikation über Ausbau neuer Medien auch Probleme im Hierarchiegefälle eben dieser oftmals vermeintlich hierarchiearm organisierten Bewegungen mit sich bringt, habe ich an anderer stelle bereits näher ausgeführt. Inwiefern sich Protestformen radikalisieren werden, bleibt auch in Zeiten der schrittweisen Lockerung der Ausgangsbeschränkungen und Maßnahmen gegen das Virus offen. Laloire:
Doch unabhängig davon, wer welche Form wählt: Protest ist appellativ, er richtet sich oft mit Bitten an die Regierung. Die katastrophale Situation von Geflüchteten in Moria hat sich trotz der nicht abreißenden und kreativen Proteste bislang nicht verbessert. Und weil der Staat in der Coronakrise vielerorts versagt, wählen Menschen vermehrt Mittel, die über Protest hinausgehen: In Italien und Spanien sind das Arbeitsniederlegungen, in Mailand beispielsweise direkte Aktionen wie Solidaritätsbrigaden, und in den USA werden Mietstreiks organisiert. Ob solche Aktionsformen sich irgendwann auch in Deutschland ausbreiten, bleibt abzuwarten. Die aktuelle Repression der Polizei, selbst gegenüber braven Formen des Protests, könnte durchaus dazu führen.
Eine Stärkung autoritärer Politik?
Wilhelm Heitmeyer — “In der Krise wächst das Autoritäre” (Interview in der Zeit — 13.April 2020)
Die Dinge gegen die es zu demonstrieren gilt und für die Alternativen für die es zu kämpfen gilt, waren schon vor der Pandemie zahlreich und sind durch dieses Ereignis nur noch zahlreicher geworden. Denn wie zu erwarten sind auch in dieser Krise, wie in den zahlreichen unterschiedlichen Krisen davor, trotz Hilfspakten und Ausfallfonds, die Ungleichheiten mehr und nicht weniger geworden. Wer geschützt wird, wer es sich erlauben kann sich selbst zu schützen und wer dennoch um einen Niedriglohn arbeiten gehen muss, oder ganz alle Einkünfte verloren hat, wer social distancing betreiben kann und wer in überfüllten Lagern lebt, all dies hat sich nicht nur nicht verbessert sondern radikal verschlimmert. Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer, der sich seit vielen Jahren mit Ungleichheit beschäftigt, wurde von der Zeit zur Coronakrise befragt. Gleich zu Beginn definiert er dabei das zentrale Merkmal einer Krise, nämlich Kontrollverlust und Ungewissheit:
Eine Krise im soziologischen Sinne zeichnet sich dadurch aus, dass erstens die normalen Routinen nicht mehr funktionieren und zweitens die Zustände vor dem Eintritt der Ereignisse nicht wieder herstellbar sind. Ein solches Ereignis erzeugt massive Kontrollverluste.
Eine Krise, so Heitmeyer, ist daher meistens ein Beschleuniger von Ungleichheiten und auch diese Krise ist dabei nicht anders, so sagt Heitmeyer:
Corona ist ein Beschleuniger von sozialer Ungleichheit. Da sind einerseits die psychischen Beschädigungen, die das Virus hinterlässt und die erst nach der Aufhebung der Kontaktbeschränkungen sichtbar sein werden. Und es sieht so aus, als würde eine tiefreichende wirtschaftliche Rezession mit weitreichender Arbeitslosigkeit auf uns zukommen. Die Folgen dürften soziale Desintegrationen und Statusverluste sein, also weitere Kontrollverluste.
Den vor allem ganz zu Beginn der Krise durchaus häufig publizierten Hoffnungen und Einschätzungen, dass diese Krise vielleicht eine nachhaltige progressive Veränderung herbeiführen könnte, wie sie z.B. Zizek äußerte, diesen Hoffnungen steht Heitmeyer sehr skeptisch gegenüber. Zu oft zeigte sich, dass eben gerade in Krisenzeiten Institutionen verhärten und autoritäre Politik gestärkt hervortritt. Auf die Frage ob er also gar nicht „beeindruckt“ sei von den momentanen Bekundungen und Absichtserklärungen in der Anerkennung ‚systemrelevanter‘ aber unterbezahlter Berufe und der gesellschaftlichen Solidarität im Allgemeinen gibt Heitmeyer eine nüchterne aber wohl realistische Antwort:
Ich bin überhaupt nicht unbeeindruckt. Aber ich sehe den großen Paradigmenwechsel nicht. Ich fürchte, diese schwärmerische Gesellschaftsromantik dürfte an den verhärteten Strukturen des Finanzkapitalismus und dem Kontrollzuwachs der politischen Institutionen zerschellen.
Damit spricht Heitmeyer einen wichtigen und oftmals unterbeleuchteten Punkt dieser Krise an, nämlich dass Kontrollverluste, also die Erzeugung eines Kontrollvakuums in und durch die Krise, selten zu Macht- und Systemwechseln führen müssen, sondern paradoxerweise genau dadurch die etablierten Machtinstitutionen Kontrollzuwächse und damit mehr Macht bekommen (siehe dazu auch meinen Beitrag zur Kontrollgesellschaften). Oftmals geht dies auch einher mit der Machtübernahme durch autoritäre Politik. Auf diese neu eröffneten Freiräume für rechte Politik und totalitäre Populismen zu achten, dazu ruft Heitmeyer in seinem Interview auf.
Boem – 10 Jahre
Aufruf zur Kundgebung vor dem Boem am 1. Mai 2020
Das BOEM*, der „Verein zur Förderung von Kunst, Kultur, Wissenschaft und Kommunikation“ feiert seinen 10 Jährigen Geburtstag, dazu gibt es auch eine Kundgebung vor dem Boem, mit Sicherheitsabstand. Dabei stellen die Aktivist*innen des Boem vor allem auch die Frage des Auschlusses ins Zentrum ihres Aufrufes. Die die arbeiten müssen, ernten, pflegen und Regale einräumen, die „systemrelevanten Berufe“ also, wie sie seit kurzem so gerne genannt werden, sind nicht nur unterbezahlt sondern auch oftmals prekär und werden von Menschen ausgeübt, die noch dazu von politischer Mitbestimmung ausgeschlossen werden. Daher auch das Motto der Kundgebung “wer Arbeiten muss – muss auch Demonstrieren dürfen – muss auch Wählen dürfen!”. Ausschnitte aus dem Demoaufruf:
Kapitalistische Ordnung schickt uns mit totgesparten Krankenhäusern in den Kampf gegen die Coronapandemie. Ohne ausländische Kräfte können weder die Pflege noch die Spargelernte aufrecht erhalten werden. Produktionen von Schutzmasken und Medizin wurden ausgelagert und zwar in einem Ausmaß das kaum wer in Europa Medizin selbst herstellen kann. Die Produktionsweise im Kapitalismus, funktioniert nur mit Millionen entrechteter Menschen. Wer seine Privilegien in Form von einem ethnischen Wahlrecht, einer Zugehörigkeit zu einer nationalen Staatsbürgerschaft verteidigt – verteidigt seinen eigenen Untergang, seine eigene Unterdrückung. Mit unserem Aufruf möchten wir uns nicht von anderen Positionen Entsolidarisieren sondern auch einen Beitrag zur Diversität unter progressiven Kräften leisten. Nehmt auch bei den anderen Demos teil.
Mayday
Aufruf zur Mayday-Parade am 1. Mai 2020 in Wien
Misstände gegen die es zu protestieren gilt, davon gibt es viele und immer mehr, das macht auch der Demo-Aufruf zur Mayday Parade heuer in Wien klar:
Der 1. Mai ist ein historischer Kampftag der Arbeit. Dieses Jahr ist er umso mehr Aktionstag, um uns aktuellen Grundrechtsverletzungen entgegenzustellen. Konzerne erhalten Rettungsfonds, die Wirtschaft wird hochgefahren. Doch öffentliche, politische Meinungsäußerung bleiben weiterhin enorm eingeschränkt. Auf dem Mittelmeer ertrinken Menschen, Corona dient als Grund, die Rettung und Hilfe zu unterlassen, sie gar zu blockieren. An den EU-Außengrenzen sind Menschen in Lagern eingesperrt und dramatisch steigenden Gesundheitsrisiken ausgesetzt. Es darf nicht sein, dass Gesundheit und Grundrechte wirtschaftlichen Interessen untergeordnet sind. Es darf nicht sein, dass Menschen Asyl- und Menschenrechte verwehrt bleiben. Das alles soll die Neue Normalität sein? Wir lehnen sowohl den Begriff als auch die diskriminierenden Maßnahmen entschieden ab. Unsere Solidarität gilt allen, die unter den jetzigen Umständen leiden. Sie gilt allen, die auch schon vor der Corona-Krise unter dem patriachalen kapitalistischen System gelitten haben
Protest aber – und wie schon in meinem Protest und Pandemie Beitrag dargestellt – ohne andere zu gefährden, in Rücksicht auf andere, das macht linke und progressive Proteste momentan aus. Diese Rücksicht, Vorsicht kombiniert mit kämpferischen Aktionen ist auch im Demoaufruf der Mayday-Parade ersichtlich:
Wir werden Abstand halten, solidarisch sein, schützende Regeln einhalten. Wir werden gemeinsam und achtsam in den öffentlichen Raum gehen und auf Missstände hinweisen! Wir lassen uns trotz Maske den Mund nicht verbieten und werden unseren Widerstand mit bunten und vielfältigen Aktionen zum Ausdruck bringen! Wir werden sichtbar und gemeinsam unsere Utopien und konkrete Forderungen auf die Straße tragen.
Hallo,
zu aktuellen Äußerungen von Nancy:
https://faustkultur.de/4241–0‑Jean-Luc-Nancy-Kummunovirus.html
Viele Grüße,
C. Irmer
Vielen Dank!
werde ich mir gleich anschauen
best
christoph