Nicht erst seit der Corona-Pandemie ist der Begriff des Anthropozäns omnipresent. In diesem Begriff/Konzept verbinden sich schließlich gleich eine ganze Reihe an zentralen Fragen und Problemen unserer Zeit, allen voran natürlich die ökologischen Katastrophen aller Art, der Klimawandel aber eben auch globale Pandemien. Mittlerweile haben die meisten Philosoph*innen auf den Begriff des Anthropozäns auf die eine oder andere Art Bezug genommen, allen voran natürlich Bruno Latour mit seinem Terrestrischen Manifest und seinen Texten zum Gaia-Konzept. Im Folgenden möchte ich mich jedoch in aller Kürze durch ein paar Zitate mit zwei alternativen Konzeptionen oder Gegenbegriffen (und zwei Autor*innen, nämlich Jason Moore und vor allem Donna Haraway) zum Anthropozän beschäftigen. Anlass hierfür ist, wie hier unten genauer nachgelesen werden kann, meine Teilnahme an einem transdisziplinären Labor, das zwischen Kunst, Wissenschaft und Politik agiert und einen offenen Raum für Diskurs und Reflektion bieten möchte. In der ersten Testlauf dieses Labors, das in Wien in den nächsten Monaten öfters stattfinden wird, steht nun eben genau der Begriff des Anthropozäns im Zentrum, aber auch die Gegenbegriffe und Gegennarrative, mehr dazu am Ende des Eintrags.
Kapitalozän
Jason Moore und andere propagieren statt Anthropozän den Begriff des Kapitalozäns, denn es ist ja nicht die abstrakte und problemtische Kategorie des Menschen, der für die ökologischen Entwicklungen verantwortlich ist, sondern vielmehr ist es eine bestimmte Phase des Kapitalismus, die diese Entwicklungen angestoßen, vor allem aber beschleunigt und intensiviert hat. Das Anthropozän verschleiert die Herrschaftsverhältnisse und Ungleichheiten, zwischen jenen die die ökologische Zerstörung befeuern und jenen, die unter den Folgen leiden. Moore dazu:
The Anthropocene makes for an easy story. Easy, because it does not challenge the naturalized inequalities, alienation, and violence inscribed in modernity’s strategic relations of power and production. It is an easy story to tell because it does not ask us to think about these relations at all. The mosaic of human activity in the web of life is reduced to an abstract Humanity: a homogeneous acting unit. Inequality, commodification, imperialism, patriarchy, racial formations, and much more, have been largely removed from consideration. (Moore 2015, 170)
Um diese Herrschaftsverhältnisse auszuweisen und dabei auch schon im Begriff genau jenes System zu benennen, das er als zentralen Akteur bestimmt, schlägt Moore den Begriff des Kapitalozäns vor:
Are we really living in the Anthropocene, with its return to a curiously Eurocentric vista of humanity, and its reliance on well-worn notions of resource-and technological-determinism? Or are we living in the Capitalocene, the historical era shaped by relations privileging the endless accumulation of capital? (Moore 2015, 173)
Donna Haraway, die selbst einen anderen Begriff vorgeschlagen hat und, wie wir gleich sehen werden, auch selbst starke Kritik an dem Begriff des Kapitalozäns übt, betont dennoch in einem der lesenswertesten Texte zu der ganzen Problematik des Anthropozäns, “Tentacular Thinking: Anthropocene, Capitalocene, Chthulucene” (online lesbar) — ein Text der in leicht veränderter Form auch in ihrem aktuellen Buch: Staying with the trouble zu finden ist -, dass wenn es nur einen Begriff geben soll, Kapitalozän wohl eben genau dieser eine Begriff sein könnte:
Still, if we could only have one word for these SF times, surely it must be the Capitalocene. Species Man did not shape the conditions for the Third Carbon Age or the Nuclear Age. The story of Species Man as the agent of the Anthropocene is an almost laughable rerun of the great phallic humanizing and modernizing Adventure, where man, made in the image of a vanished god, takes on superpowers in his secular-sacred ascent, only to end in tragic detumescence, once again. (Haraway)
Chthulucene, oder der Kampf für ein, zwei, viele Gegenerzählungen
Neben der Kritik an dem abstrakten Begriff des Menschen, den das Anthropozän beschwört, ist sowohl der Anthropozän- als auch der Kapitalozän-Begriff für Haraway problematisch, weil er zu einfach und vor allem zu groß ist, ohne komplex und nuanciert genug zu sein. Haraway:
Note that insofar as the Capitalocene is told in the idiom of fundamentalist Marxism, with all its trappings of Modernity, Progress, and History, that term is subject to the same or fiercer criticisms. The stories of both the Anthropocene and the Capitalocene teeter constantly on the brink of becoming much Too Big. Marx did better than that, as did Darwin. We can inherit their bravery and capacity to tell big-enough stories without determinism, teleology, and plan. (Haraway)
Haraway schlägt als Gegenbegriff die Chthulucene vor, ein Begriff der eine Vielzahl an Quellen und Geschichten anspricht und vor allem die “chtonische” also erdverbundene Komponente jenen anderen allzu hohen und geistigen Konzepten entgegenstellen möchte. Für die genaue Herleitung des Begriffs und warum es dabei nicht um Lovecrafts Cuthulu-Mythos geht, lohnt es sich ihren Text in Gänze zu lesen, beziehungsweise in die Vorträge dazu reinzuschauen. Zentral ist in diesem Kontext die Idee einem großen und vereinfachenden Konzept wie dem Anthropozän die Vielfalt nicht bloß menschlicher Akteure entgegenzustellen und damit die anthropozentrische Diskussion um ökologische Fragen zu kritisieren. Haraway:
We need another figure, a thousand names of something else, to erupt out of the Anthropocene into another, big-enough story. […]All of these stories are a lure to proposing the Chthulucene as a needed third story, a third netbag for collecting up what is crucial for ongoing, for staying with the trouble. The chthonic ones are not confined to a vanished past. They are a buzzing, stinging, sucking swarm now, and human beings are not in a separate compost pile. We are humus, not Homo, not anthropos; we are compost, not posthuman. As a suffix, the word kainos, “-cene,” signals new, recently made, fresh epochs of the thick present. To renew the biodiverse powers of terra is the sympoietic work and play of the Chthulucene. Specifically, unlike either the Anthropocene or the Capitalocene, the Chthulucene is made up of ongoing multispecies stories and practices of becoming-with in times that remain at stake, in precarious times, in which the world is not finished and the sky has not fallen — yet. We are at stake to each other. Unlike the dominant dramas of Anthropocene and Capitalocene discourse, human beings are not the only important actors in the Chthulucene, with all other beings able simply to react. The order is reknitted: human beings are with and of the Earth, and the biotic and abiotic powers of this Earth are the main story. (Haraway)
Haraways Stärke ist dabei nicht in den allgemeinen Chor des Untergangs und der Endzeit einzustimmen, sondern für Gegenerzählungen zu plädieren, die auch neue Perspektiven und vor allem eine Vielzahl anderer nicht-menschlicher Aktuere einzubringen versucht:
Both the Anthropocene and the Capitalocene lend themselves too readily to cynicism, defeatism, and self-certain and self-fulfilling predictions, like the “game over, too late” discourse I hear all around me these days, in both expert and popular discourses, in which both technotheocratic geoengineering fixes and wallowing in despair seem to co-infect any possible common imagination. (Haraway)
Nachdem der Begriff des Anthropozäns sehr gut geeignet ist, Aufmerksamkeit auf die Problematik zu lenken und damit auch eine Vielzahl an außerakademischen Kontexten erreicht, was definitiv eine Stärke dieses Begriffs ist, so sind es dennoch genau diese anti-anthropozentrischen Gegenerzählungen, die es braucht. Ob Chthulucene wirklich der passende oder beste Begriff dafür ist, ist diskutierbar, relevant ist vielmehr der Versuch etwas anderes zu versuchen:
The unfinished Chthulucene must collect up the trash of the Anthropocene, the exterminism of the Capitalocene, and chipping and shredding and layering like a mad gardener, make a much hotter compost pile for still possible pasts, presents, and futures. (Haraway)
Ein transdisziplärer Raum für Gegenerzählungen? — Test.Tube Lab 01
Was ist das Anthropozän? Ist dieser Begriff brauchbar, welche passenderen Begriffe sollten wir verfolgen oder kreieren? Müssen wir in Endzeitstimmung verfallen oder gibt es auch Möglichkeiten des Widerstands und neuer alternativer Erzählungen, wie sie Haraway und andere versuchen? Diese und ähnliche Fragen gilt es nicht nur in den Wissenschaften, der Theorie und der Kunst zu stellen, sondern auch in konkreten politischen Kontexten. Neue Fragen aber auch mögliche Antworten lassen sich dabei nicht in einer einzelnen Disziplin finden, sondern vor allem braucht es transdisziplinäre Kontexte und Räume in denen diese Problematiken aus unterschiedlichsten Perspektiven und mit unterschiedlichsten Methoden reflektiert werden können.
Einen solchen transdisziplinären Raum zwischen Kunst, Wissenschaft und Politik erproben wir gerade in Wien, im kleinen Rahmen. In den kommenden Monaten soll es eine Reihe an transdisziplinären Labs geben, die im Idealfall solch einen transdisziplinären Raum bieten können. Nicht zuletzt aufgrund der momentanen alles beherrschenden Pandemie, wird das erste Lab nur ein kleiner Testlauf für diese Idee sein, und vor allem online stattfinden. Freitag und Samstag werden in einem losen Programm Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen unterschiedliche Perspektiven, Projekte und Ideen zur Diskussion stellen, die sich alle samt um das große Thema Anthropozän/Kapitalozän richten werden. Die Abende können über Stream verfolgt werden und über den Chat, den ich moderieren werde, können Fragen und Einwände eingebracht und das Thema in anderer Form weiterdiskutiert werden. Dieses erste Lab ist nur ein erster Testlauf, keine durchorganisierte Performance oder Stream-Sendung, sondern ein erster “Rough-Ride”.
Hier der Pressetext zum ersten Lab:
OPENING : TEST.TUBE LAB 01
Eröffnung des seriellen transdisziplinären TEST.Labors
ANTHROPOZÄN
ART-LAB — offenes performatives Diskurslabor
FR. 25.09. + SA. 26.09
Opening: vor Ort — im physischen Raum : 18:30
on-line / live-stream ab 19:30
online via http://echoraeume.klingt.org
ODEON-Spitzer / Taborstraße 10 / 1020 Wien
(öffentliche Verbindung: U1 / U4 Schwedenplatz / oder Straßenbahn Linie 2)
EINTRITT FREI / FREE ENTRY
Aufgrund der gegenwärtigen COVID-19 Situation und den entsprechenden Regelungen,
gibt es nur beschränkte Plätze im Spitzer bitten daher um Voranmeldung
unter : office@nomad-theatre.org
18:30 Eröffnung / opening
FR./FRI. 26–09
ANTHROPOZÄN — Das letzte Zeitalter / Antropocene — The last Age?
Das Anthropozän bezeichnet nicht nur den drastischen Bruch mit den Lebensbedingungen der letzten 12.000 Jahre,
oder die dramatische Klimaveränderung, sondern markiert auch eine fundamentale Veränderung im Denken und der Anschauung der Welt.
Ein erster Testlauf eines Rough-Rides
durch die Veränderungsprozesse das menschlichen Weltbilds und veränderlicher Realitäten.
Das TEST.TUBE.Labor ist ein transdisziplinäres Labor, künstlerischer Entwicklungsraum, Forum, und offene Diskurs-/Bühne, die seriell, als Projektzyklus realisiert wird und zum öffentlichen Diskurs stellt. Die Gegenwart zeigt deutlich wie nötig neue soziale Konzepte und offene Diskursplattformenen für die Entwicklung zeitadäquater Strategien
und Technologien sind. Die Kunst der Gegenwart ist eine kollaborative Praxis, verortet zwischen Wissenschaft, Technologie,
politischen Prozessen und sozialen Strategien, aufgespannt in einem partizipativen Netzwerk von Menschen unterschiedlichster Hintergründe.
SA./SAT. 26–09
KAPITALOZÄN Die Ideologie des Kapitalismus als systemischer Motor der explosionsartigen Veränderung des Ungleichgewichts.
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KAPITALOCENE The ideology of capitalism as a systemic engine of the explosive development of imbalance
A discourse on practical strategies
Künstlerische Leitung / Regie / Moderation - Thomas J. Jelinek
live-medien / on-line Regie — Philip Leitner
Installation L I C H T D I E B I N — Veronika Birkner
Mit:
Karl Bruckschwaiger — Kerstin Bennier — Veronika Birkner — Sylvia Eckermann — Christoph Hubatschke — Killian Jörg — Peter Koger — Aiko Kazuko Kurosaki — Philip Leitner — Michael Loizenbauer — Lisa Moravec — Tina Muliar — Sophia Publig — Barbis Ruder — Saleh Rozati — Vinzenz Schwab — Linda Spetcu — Zak Ray — Stefan Vogelsinger — u. A.
Expert*innen / Gäste: Karl Bruckschwaiger / Eva Horn / Elisabeth Klatzer / Gerald Nestler
Produktion: NOMAD
fieldtest.coop
in Kooperation mit ODEON-Spitzer und WUK
Cité internationale des Arts / Paris
Anthroprozän, ein interessantes Thema das sicherlich auch mit Kunstoffe zu tun hat. Es gibt 700 Jahre Geschichte weil es 1284 erfunden wurde. 1000 verschiedene Arten. Wer weis wo es ist ? Es verschwindet nich ! Es zerkleinert sich zu Mikropartikel und kommt über die Foodchain in unsere Körper. Es gibt eine Geschichte von 211 Jahren Plastik Dinge, 111 Jahre Textilien die wir tragen, 82 Jahren Zahnpaste, 59 Jahre Silikon Busen, 48 Jahren PET Flaschen. Kunststoffe sind auch eine Art Atome, sie verschwinden nicht. Wir spielen mit ihnen, kleiden uns mit ihnen, schützen den Körper, putzen die Zähne, verpacken alles .….es sind keine natürlichen Stoffe. Mehr Anthropozän Stoffe…sie verändern unsere Ontologie..wir essen sie, die Meere sind voll damit, bald können wir nur noch Aquaponik Nahrungsmittel essen, denn wer weis schon was die freie Bio Natur alles für Kunststoff Altlasten hat.
vielen dank — mit großem interesse gefunden und gelesen, da es so viele querverbindungen gibt zu etwas, das ich seit vielen jahre in musikalischer arbeit weiterentwickele…
https://www.soundingfuture.com/de/artikel/palaeofuturismus