Die Pandemie in Zeiten der ‘Kontrollgesellschaften’

Dieser Beitrag ist Teil der Coronavirus und die Philosophie Serie. Einen Überblick über die weiteren Teile dieser Blogbeitragsserie gibt es hier.

Quelle: von Taeyoon Choi aus einer Visualisierung des Kontrollgesellscahftsaufsatzes

Handyapps die die Bewegungen und Kontakte tracken sollen, Home Office um auch in der Isolation produktiv bleiben zu können und neben der Selbstisolation in den Wohnungen die Lenkung der Mobilität all jener die Arbeiten und Einkaufen gehen und all dies neben geschlossenen Grenzen und der Weigerung Refugees aus Griechenland auf andere Länder aufzuteilen. Die Maßnahmen gegen die Verbreitung von Covid19 sind nicht alleine mit den Begriffen der Disziplinargesellschaft, der Biopolitik und des Ausnahmezustands zu verstehen.

Jenseits der Disziplinargesellschaft und des Volkskörpers

In früheren Beiträgen dieser Serie wurde des Öfteren auf Foucaults Begriff der Disziplinargesellschaft/macht und den Kontext in dem er diese Machtverschiebung beschreibt, nämlich die Bekämpfung der Pestseuche, eingegangen. Auch habe ich sowohl Foucaults Konzept der Biopolitik als auch darauf aufbauende Überlegungen über das Potential einer progressiven oder demokratischen Biopolitik beschrieben. Foucaults Arbeiten und besonders diese Konzepte stellen, so sollte gezeigt werden, einen wichtigen Beitrag in den notwendigen aktuellen Diskussionen über das Coronavirus und die Machtverschiebungen durch die Maßnahmen dagegen dar. Theoretiker wie Philip Sarasin haben in den letzten Wochen jedoch immer wieder diesen vielleicht ‚voreiligen‘ Reflex, auf Foucault und seine Begrifflichkeiten zurückzugreifen, kritisiert, nicht zuletzt weil Foucaults Konzepte bereits von ihm selbst sehr klar historisch verortet wurden und daher natürlich die Anwendbarkeit auf aktuelle Ereignisse begrenzt sein muss. (Warum Focucault dennoch zentral bleibt habe ich hier diskutiert)

Dass die Einschließungs- und Selbstisolationsaufforderungen der unterschiedlichen Regierungen keinesfalls gleich den Maßnahmen gegen Pestausbreitung, wie sie Foucault beschrieben hat, sind, ist evident. Auch wenn momentan einiges an Foucaults Studien über die Disziplinargesellschaft und ihre bestimmte Form der Machtausübung erinnert, so müssen wir doch klar feststellen, dass wir nicht mehr in einer Disziplinargesellschaft leben und dies hat sich schon lange vor dem Coronavirus gezeigt. Auch das Bild des kollektiven „Volkskörpers“, das Foucault am Begriff der Biomacht beschreibt, ist heute in Zeiten der Globalisierung zwar immer noch aktiv, aber dennoch verändert. Auf diese Veränderungen und Aktualisierungen der foucaultschen Konzepte haben viele Theoretiker*innen hingewiesen, im Folgenden möchte ich jedoch einen jener Ansätze näher darstellen, den ich für am wichtigsten in der aktuellen Zeit (auch schon vor der Pandemie) halte, nämlich das Konzept der Kontrollgesellschaften von dem französischen Philosophen Gilles Deleuze.

Ein Postskriptum zu Foucaults Werk

Gilles Deleuze verfasste wenige Jahre vor seinem Tod, den kurzen aber einflussreichen und vielzitierten Text Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, der am 1. Mai 1990 in dem französischen L‘autre Journal publiziert wurde. Wie schon der Titel vermuten lässt, ist Deleuzes Text als Ergänzung und Weiterarbeit an Foucaults Werk gedacht und weder als Kritik noch als Ersatz. Gleich zu Beginn betont Deleuze, dass die Disziplinargesellschaften eben schon bei Foucault als klar historisch verortet (wir können ergänzen auch geographisch klar verortet) verstanden wurden, beginnend mit dem 18.Jahrhundert und ihren Höhepunkt erreichend im 20 Jahrhundert. Zentrales Merkmal der Disziplinargesellschaften ist dabei die Einschließung des Individuums und damit auch die großen Institutionen der Einschließung, die Foucault quer durch sein Werk immer wieder analysierte, das Gefängnis, die Klinik, die Fabrik aber auch die Schule, Universitäten, die Familie und die Kaserne, uvm. Foucault selbst war sich aber, so Deleuze, der „kurzen Dauer dieses Modells“ bewusst (vgl. 254). Seit der zweiten Hälfte des 20 Jahrhunderts, so Deleuze, stellt die Disziplinargesellschaft nicht mehr die dominierende Machtform dar, die Kontrollgesellschaften haben sie abgelöst:

Die Disziplinargesellschaften, da gehörten wir schon nicht mehr dazu, wir waren schon dabei, sie zu verlassen. Wir befinden uns in einer allgemeinen Krise aller Einschließungsmilieus, Gefängnis, Krankenhaus, Fabrik, Schule, Familie. […] Die Kontrollgesellschaften sind dabei, die Disziplinargesellschaften abzulösen. (255)

Das bedeutet jedoch keinesfalls, dass es nicht immer noch weiter zahlreiche Elemente und vor allem Institutionen der Disziplinargesellschaft gäbe oder diese verschwinden würden. Diese Institutionen und Bereiche gibt es nämlich nicht nur nach wie vor weiterhin, sondern sie üben im Gegenteil noch aggressiver ihre Disziplinarmacht aus (man sieht dies z.B. an der zunehmenden Zahl an Gefängnisinsassen in den USA oder auch den Lagern und Abschiebezentren in Europa). Die Krise der Disziplinarmacht führt zu deren Intensivierung an den ‚Rändern‘ (den Grenzen) und in den alten Institutionen.

Was Deleuze also meint, ist nicht eine vollständige Abkehr oder ein absolutes Ende der Disziplinargesellschaften, sondern vielmehr ein Wechsel der hegemonialen Machtstruktur. Die Kontrollgesellschaften sind die neue Hegemonie und dominieren das soziale, politische, wirtschaftliche und psychische Leben der Bewohner*innen, und lassen gleichzeitig genug Raum für ein konzentrierteres Erstarken von Disziplinarinstitutionen, um genauer zu sein, die Kontrollgesellschaften brauchen auch die intensivierten Räume der Disziplinarmacht. Sie existieren in Symbiose und wie Deleuze betont, geht es weder um eine lineare Abfolge, wir sind vielmehr konfrontiert mit der Gleichzeitigkeit beider Formen, und es geht auch nicht um eine Fortschritts- oder Rückschrittserzählung, denn, so stellt Deleuze klar, das eine ist nicht besser als das andere, es ist schlicht anders:

Es ist nicht nötig zu fragen, welches das härtere Regime ist oder das erträglichere, denn in jedem von ihnen stehen Befreiungen und Unterwerfungen einander gegenüber. In der Krise des Krankenhauses als geschlossenem Milieu konnten zum Beispiel Sektorisierung, Tageskliniken oder häusliche Krankenpflege zunächst neue Freiheiten markieren, wurden dann aber Bestandteil neuer Kontrollmechanismen, die den härtesten Einschließungen in nichts nachstehen. (255f)

Doch was sind die Kontrollgesellschaften eigentlich?

Die Kontrollgesellschaften zeichnen sich in erster Linie durch die Kontrolle der Bewegungen, die Lesbarkeit der Körper und Datenströme und die Modulation der Einzelnen aus. Die Individuen werden also nicht festgesetzt und in einzelnen abgeschlossenen Institutionen eingeschlossen sondern im Gegenteil, die Individuen werden in ständiger Bewegung und Flexibilität gehalten. Nicht mehr wird der Körper an die großen Maschinerien angepasst sondern ständig „moduliert“ wie Deleuze am Beispiel der Gussform beschreibt:

Die Einschließungen sind unterschiedliche Formen, Gussformen, die Kontrollen jedoch sind eine Modulation, sie gleichen einer sich selbst verformenden Gussform, die sich von einem Moment zum anderen verändert, oder einem Sieb, dessen Maschen von einem Punkt zum anderen variieren. (256)

Statt also der Festsetzung ist permanente Anpassung und Flexibilität gefragt. Wer sich hier an neoliberale Buzzwords erinnert fühlt, liegt nicht falsch. Die neoliberale Ideologie ist schließlich eine der treibenden Faktoren der Kontrollgesellschaften, andere wären z.B. Globalisierung und Digitalisierung. Die individuelle Selbstverwirklichung und Entfaltung entpuppt sich als geleitete, eben kontrollierte Entwicklung. Statt vermeintlicher personaler Freiheit, wie es der Neoliberalismus glauben machen möchte, eben doch nur eine unterdrückende und ausbeutende hegemoniale Machtform. Deleuze dazu:

Denn wie das Unternehmen die Fabrik ablöst, löst die permanente Weiterbildung tendenziell die Schule ab, und die kontinuierliche Kontrolle das Examen. Das ist der sicherste Weg, die Schule dem Unternehmen auszuliefern. In den Disziplinargesellschaften hörte man nie auf anzufangen (von der Schule in die Kaserne, von der Kaserne in die Fabrik), während man in den Kontrollgesellschaften nie mit irgend etwas fertig wird: Unternehmen, Weiterbildung Dienstleistung sind metastabile und koexistierende Zustände ein und derselben Modulation, die einem universellen Verzerrer gleicht. (257)

Von ständiger Erreichbarkeit, permanenter Weiterbildung, bis hin zu den gerade momentan verlangten Home Offices, die ständige Verfügbarkeit und damit die Verwischung von Arbeitszeit, Freizeit und unbezahlter Care-Arbeitszeit all dies sind Entwicklungen und Mechanismen der Kontrollgesellschaften. Die Macht und damit auch der Profit, so kann zusammengefasst werden, werden nicht mehr notwendig aus der Disziplinierung des einzelnen Körpers gewonnen, sondern durch die Lenkung und Kontrolle von Bewegungen und Strömen. So wie das Geld fließt, muss auch der Warenverkehr und das Individuum in ständiger Bewegung sein, darf gar nicht mehr anhalten. Doch immer konzentriert sich diese Macht nur auf bestimmte Körper und alle anderen werden ausgeschlossen, eingeschlossen und umso brutaler diszipliniert. Genau dies beschreibt auch Deleuze wenn er den Übergang zu den Kontrollgesellschaften als „Mutation des Kapitalismus“ bezeichnet und schreibt:

Die Kontrolle ist kurzfristig und auf schnellen Umsatz gerichtet, aber auch kontinuierlich und unbegrenzt, während die Disziplin von langer Dauer, unendlich und diskontinuierlich war. Der Mensch ist nicht mehr der eingeschlossene, sondern der verschuldete Mensch. Allerdings hat der Kapitalismus als Konstante beibehalten, dass drei Viertel der Menschheit in äußerstem Elend leben: zu arm zur Verschuldung und zu zahlreich zur Einsperrung. Die Kontrolle wird also nicht nur mit der Auflösung der Grenzen konfrontiert sein, sondern auch mit dem Explodieren von Slums und Ghettos. (260)

Das Unternehmen und das Dividuum

Statt der Fabrik ist das Unternehmen, wie Deleuze schreibt, die hegemoniale Form der Institution. Genau deswegen soll auch alles wie ein Unternehmen gesehen, verstanden und geführt werden, die Schule, das Krankenhaus, die Universitäten und natürlich auch der Staat selbst. Für die Kontrollgesellschaften zählen daher nicht mehr die Individuen und ihre einzelnen Körper, sondern im Zentrum der Macht stehen das, was Deleuze die „Dividuen“ nennt (hierzu möchte ich auf die wichtige und umfangreiche Arbeit von Gerald Raunig zu diesem Begriff verweisen, zu der ich hier näheres geschrieben habe). Dividuum bezeichnet dabei die Lesbarkeit, Einordnebarkeit und Sicht auf die einzelnen und ihre Körper durch Statistiken, Berechnungen und Wahrscheinlichkeiten. Wie Deleuze schreibt:

Die Individuen sind »dividuell« geworden, und die Massen Stichproben, Daten, Märkte oder »Banken«. (258)

Gerade in Zeiten von Big Data ist dies besonders deutlich zu sehen. Nicht der Einzelne zählt mehr, nicht die Vorlieben, Krankheiten und sexuellen Praktiken des Einzelnen interessieren oder lassen sich zu Profit verarbeiten, sondern die miteinander in Beziehung gesetzten Vorlieben, Konsumgewohnheiten, politischen Überzeugungen, sexuellen Orientierungen und Gesundheitsdaten interessieren. In der Bezugsetzung der Daten liegt das Interesse. Nicht der einzelne Körper sondern Bio-Banks entscheiden welche Krankheiten erforscht werden, wer Behandlung bekommt und wer nicht. Der momentane Hype Artificial Intelligence in allen möglichen Bereichen einzusetzen um Big Data überhaupt bearbeitbar und lesbar, und damit profitabel, zu machen, verstärkt dabei genau jene Machtmechanismen und Ungleichheiten der Gesellschaften, die zu vermeintlich ‚neutralen‘ Daten werden sollen. Die Biases entstehen nicht in der Maschine sondern reproduzieren die Ungleichheiten der Gesellschaft und verstärken sie dadurch, „naturalisieren“ sie nahezu.

Eine Frage der Technologie

Man sieht bereits, ein zentraler Aspekt der heutigen Kontrollgesellschaften sind Digitalisierung und die neuen Technologien im Allgemeinen. Dies beschreibt auch Deleuze:

Es ist einfach, jede Gesellschaft mit Maschinentypen in Beziehung zu setzen, nicht weil die Maschinen determinierend sind, sondern weil sie die Gesellschaftsformen ausdrücken, die fähig sind, sie ins Leben zu rufen und einzusetzen. Die alten Souveränitätsgesellschaften gingen mit einfachen Maschinen um: Hebel, Flaschenzüge, Uhren; die jüngsten Disziplinargesellschaften waren mit energetischen Maschinen ausgerüstet, welche die passive Gefahr der Entropie und die aktive Gefahr der Sabotage mit sich brachten; die Kontrollgesellschaften operieren mit Maschinen der dritten Art, Informationsmaschinen und Computern, deren passive Gefahr in der Störung besteht und deren aktive Gefahr Computer-Hacker und elektronische Viren bilden. (258f)

Wie die Transformation zu den Disziplinargesellschaften so geht also auch die Transformation zu den Kontrollgesellschaften mit einer technologischen Umwälzung einher, wird von dieser aber nicht alleine und maßgeblich angetrieben, dies ist kein technikdeterministisches Konzept. Dennoch spielt eben dieser technologische Wandel auch eine entscheidende Rolle in der Umwälzung der Herrschaftsmechanismen. Die neuen Technologien erlauben größere Teile der Gesellschaft in die ‚Flexibilisierung‘ und ständige Verfügbarkeit zu treiben aber darüber hinaus und wichtiger erlauben sie eine Überwachung, Kontrolle und Ausbeutung.

Zentral ist und bleibt dabei nämlich eben die Kontrolle dieser Ströme, die Kontrolle der Mobilität. Dies kann auch ganz direkt architektonisch verstanden werden. Statt Leute einzuschließen, versperrt man ihnen den Zugang, oder ermöglicht nur zu bestimmten Zeiten den Zugang (so z.B. für Service und Putzpersonal in Chefetagen). Das Individuum muss dann nicht festgesetzt sein, wenn es erstens immer lokalisierbar ist und zweitens die Bewegung kontrolliert und der Zugang zu bestimmten Orten reguliert werden kann. Oftmals passieren diese Lenkungen mehr durch Anreize und Nudges, oft aber eben auch durch Anordnungen, Verbote oder Zwänge. Eine offene Gesellschaft, vermeintlich freie Grenzen für Menschen und Waren und dennoch können so viele eben nicht frei reisen oder sich frei bewegen. Deleuze:

Man braucht keine Science-Fiction, um sich einen Kontrollmechanismus vorzustellen, der in jedem Moment die Position eines Elements in einem offenen Milieu angibt, Tier in einem Reservat, Mensch in einem Unternehmen (elektronisches Halsband). […]was zählt, ist nicht die Barriere, sondern der Computer, der die — erlaubte oder unerlaubte — Position jedes einzelnen erfasst und eine universelle Modulation durchführt. (261)

Die Pandemie in Zeiten der Kontrollgesellschaften

Kontrollierte Bewegung statt Festsetzung

Doch was hat dies nun alles mit dem Coronavirus und den Maßnahmen gegen dessen Ausbreitung zu tun? Wie schon mehrfach angedeutet ist die momentane Situation in vielen (vor allem so genannten westlichen) Ländern eine geforderte Selbstisolation der meisten Menschen in ihrer Wohnung und das Prinzip des social distancing. Liest man nun, wie hier an einigen Zitaten nachgezeichnet, Foucaults Beschreibungen der Maßnahmen gegen die Pestausbreitung, so mag man Parallelen zur jetzigen Situation sehen, die generelle Situation ist jedoch eine völlig andere.

Auch wenn viele momentan den Großteil der Zeit in ihrer Wohnung verbringen, sind wir trotz Polizeikontrollen und zugesperrten Parks nicht eingesperrt. Die Isolationsregelung hat nämlich eine ganze Reihe an Ausnahmen, die zumeist von Politiker*innen besonders hervorgehobene und priorisierte ist dabei die Ausnahme der Arbeit. Muss man einer Arbeit nachgehen, die Tätigkeit vor Ort verlangt, darf/muss man weiterhin die Wohnung verlassen. Es findet also keine Einschließung statt, sondern vielmehr eine Kontrolle der Bewegung. Wer darf sich wohin in der Stadt bewegen, wer welche Räume, öffentliche oder wirtschaftliche, betreten, wer darf öffentlich in Erscheinung treten und wer nicht. All dies verstärkt im Wesentlichen die Machtmechanismen die auch vor der Pandemie schon herrschten, macht jedoch die Ungleichheiten dabei noch deutlicher. Für die Arbeit und auf der Arbeit ist ein Ansteckungsrisiko einkalkuliert, Arbeitskräfte werden hierfür riskiert, nicht immer handelt es sich dabei um „systemrelevante“ Tätigkeiten. Doch weiters führt die Selbstisolation nicht zu einer Pause, sondern durch die neuen Technologien wurden – wo es möglich war – Home Offices erzwungen. Die ständige Erreichbarkeit gegenüber der Firma hat sich nun ganz verschoben, es gibt nun nicht nur immer weniger zeitliche Trennung zwischen Arbeit und Freizeit sondern zunehmend auch keine räumliche mehr.

Die Kontrolle der Bewegung und auch die Kontrolle der sozialen Kontakte wird nun durch den Ruf nach technologischen Lösungen noch intensiviert. Mit Handyapp oder sonstigen „smarten“ Geräten sollen Bewegungsprofile erstellt werden und der Kontakt einzelner Leute miteinander aufgezeichnet werden (virtual handshake). Die datenschutzrechtlichen Analysen solcher technologischen ‚Lösungen‘ sind essentiell. Dennoch interessiert in der zu Grunde liegenden Logik eben tatsächlich nicht die Bewegung oder die sozialen Treffen einzelner bestimmbarer Leute. Das Individuum wird auch hier als Dividuum erfasst. Es zählen die Bewegungs- und Kontaktströme und die Kontrolle eben jener. All diese Lösungen sollen ja vor allem eingesetzt werden um die wirtschaftliche Produktivität/Profite wieder steigern zu können, nicht um eine freiere Bewegung im öffentlichen Raum oder direkte Treffen mit Freund*innen und Familie wieder zu ermöglichen. Das muss nicht bedeuten, dass nicht einzelne Entwicklungen für viele Menschen wichtig sind und berufliche und damit finanzielle und psychische Stabilität ermöglichen. Dennoch gilt es die zu Grunde liegende Logik solcher Vorschläge zu bedenken.

Der dividuelle Volkskörper

Der zweite zentrale Aspekt betrifft die gesundheitspolitische Sphäre. Wie bereits dargestellt finden sich direkte und sehr offensichtliche Parallelen in der jetzigen Situation zur Beschreibung der Biopolitik bei Foucault. Die Idee der Volksgesundheit, eines „gereinigten“ oder eben „durchseuchten“ „Volkskörpers“ – Foucault wies bereits von Beginn weg sehr klar auf die faschistoide Grundlogik einer Biopolitik hin – findet sich gerade in rechten und neoliberalen oder auch selbsternannten „wirtschaftsfreundlichen“ Feuilleton-Artikel und online Posts zu genüge. Man müsse die Wirtschaft so schnell wie möglich hochfahren, Herdenimmunität aufbauen und Risikogruppen strenger isolieren. Dass dies bedeutet 100 Tausende Menschen aus der Gesellschaft und dem Sozialleben komplett auszuschließen 8was so auch gar nicht funktionieren würde) und ebenfalls so viele Leben zu riskieren, oder der Wirtschaft zu opfern ist denen die diese Maßnahmen so eifrig einfordern auch durchaus sehr bewusst, ja gewollt. Dies ist eine Kontrollgesellschaftslogik.

Weder der individuelle Körper noch der ‚Volkskörper‘ steht im Fokus, sondern die dividuellen Körper, die, wie oben beschrieben, zwischen dem Individuellen und dem Totalitär-Ganzen stehen, die Daten und Statistiken, die Potentiale und Wahrscheinlichkeiten. Das Credo der Stunde ist weder die Gesundheit einzelner noch die Volksgesundheit, sondern schlicht und einfach das kontrollierte langsame Anstecken für das Weiterlaufen der Wirtschaft und damit der Kontrollgesellschaften.

Im Krankenhaus-Regime: die neue Medizin “ohne Arzt und Kranken”, die potentielle Kranke und Risiko-Gruppen erfasst, was keineswegs von einem Fortschritt hin zur Individuierung zeugt, wie man sagt, sondern den individuellen oder numerischen Körper durch die Chiffre eines “dividuellen” Kontroll-Materials ersetzt. (261f)

Vielleicht ist gerade eine so dramatische Zeit wie die Pandemie, in der gesellschaftliche Probleme so offen zu Tage treten und selbst für neoliberale Apologet*innen bestimmte Sachen erstmals seit Jahrzehnten nicht mehr forderbar, ja nicht einmal mehr sagbar erscheinen, vielleicht ist genau dies daher die Zeit in der es gilt:

Weder zur Furcht noch zur Hoffnung besteht Grund, sondern nur dazu, neue Waffen zu suchen. (256).

Literatur

Deleuze, Gilles (1993): “Postskriptum über die Kontrollgesellschaften”, in: ders.: Unterhandlungen 1972–1990. Frankfurt/M: Suhrkamp, S. 254–262.

Den ganzen Text kann man hier online lesen

Eine spannende Visualisierung des Essays gibt es hier

Eine Einführung zu den Kontrollgesellschaften bietet auch dieses Videoessay:

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