Esposito: Von der ‚Politisierung der Medizin‘ und dem Zusammenbruch des Systems

Dies ist der fünfte Teil der Coronavirus und die Philosophie Serie. Einen Überblick über die weiteren Teile dieser Blogbeitragsserie gibt es hier.

Wie im vorigen Beitrag ausgeführt, hatte Jean-Luc Nancy direkt einen Tag nach Agambens fragwürdigen Kommentar zum Coronavirus mit einer „freundschaftlichen Kritik“ auf Agamben geantwortet. Wie dargestellt, zeigte sich gerade in dieser durchaus berechtigten Kritik an Agamben jedoch auch Nancys Problem Politik und politische Prozesse in ihrer Komplexität zu betrachten. So konterte Nancy vor allem mit einem schwammig allgemeinen Globalisierungsbegriff und einer bis zur Unbrauchbarkeit ausgedehnten Kritik an der „technischen Vernetzung“. Bereits einen Tag später antwortete daher der italienische Philosoph Roberto Esposito auf Nancy in einem äußerst spannenden und fruchtbaren Text, den ich nun im Folgenden zusammenfassen und kommentieren werde.

Am 28.Februar 2020 publizierte Roberto Esposito diese doppelte Replik unter dem Titel „Cured to the Bitter End“ in Autonomia, derselben Zeitung in der auch Nancy am Tag davor publizierte (Espositos Text im italienischen Original kann hier gelesen werden / die englische Übersetzung findet sich, wie schon bei den Texten davor, im European Journal of Psychoanalysis). Im Gegensatz zu den Kommentaren von Agamben und Nancy ist Espositos Text weniger wie ein Zeitungskommentar und mehr wie ein kurzer dafür aber äußerst dichter philosophischer Essay, wenn auch ein fragmentarischer, geschrieben, es lohnt sich durchaus den Text in seiner Gänze zu lesen, ich werde jedoch im Folgenden daher auch größere Teile des Textes direkt zitieren.

Nancy und die Sache mit der (Bio-)Politik

Esposito beginnt seinen Text mit dem für solche Texte üblichen kurzen Lob der intellektuellen Brillianz dessen, den man gleich massiv kritisieren wird. Nach diesen schmeichlerischen Einleitungsworten wendet sich Esposito auch gleich dem seiner Meinung nach zentralen Problem von Nancys Text zu, einem Problem, dass Nancys Arbeiten im Allgemeinen betrifft, dass sich wohl aber gerade im Kontext seiner Bemerkungen zum Coronavirus besonders auffällig offenbart, nämlich seiner apolitischen Philosophie. Die Hauptkritik an Nancy ist seine konstante Verweigerung dem Konzept der Biopolitik gegenüber und dies nicht nur in der Form, wie sie Foucault entwickelt hat (dazu gibt es hier einen eigenen Beitrag), sondern auch in anderen Iterationen dieses Konzepts, so z.B. jener von Agamben, bzw. überhaupt der Verweigerung die Existenz von so etwas wie Biopolitik anzuerkennen, und der damit einhergehenden Unfähigkeit, bestimmte Phänomene in ihrer Komplexität zu analysieren.

What interrupted our dialogue at one point was Nancy’s sharp opposition to the paradigm of biopolitics, to which he has always opposed, as in this text, the relevance of technological apparatus – as if the two things were necessarily in contrast. 

Die Relevanz des Konzepts der Biopolitik zeigt sich, nicht nur für Esposito, in der momentanen Situation ganz besonders. Denn es ist gerade in und mit diesem Konzept der Biopolitik möglich die vielfältigen und mannigfaltigen Verschränkungen unterschiedlicher Felder unter dem Paradigma des Lebenserhaltes, also der Gesundheit nicht von Individuen sondern eben der Bevölkerung, zu verstehen und zu analysieren. Gerade im Virus, in dessen Verbreitung wie auch dessen ‚Bekämpfung‘, zeigt sich die auch schon vor der Pandemie herrschende Verschränkung der medizinischen, politischen, technologischen, wirtschaftlichen sozialen aber auch psychischen Sphären unter einem Paradigma. Esposito dazu:

While in fact even the term “viral” itself points to a biopolitical contamination between different languages – political, social, medical and technological – united by the same immune syndrome, meant as a polarity semantically opposed to the lexicon of communitas. Though Derrida himself used the category of immunisation extensively, Nancy’s refusal to confront himself with the paradigm of biopolitics was probably influenced by the dystonia with regard to Foucault that he inherited from Derrida.

Das Espositos Kritik an Nancy nicht nur nicht übertrieben ist, sondern ganz im Gegenteil genau den Kern des Problems trifft, zeigt die kurze aber umso aussagekräftigere informelle Antwort, die Nancy Esposito auf dessen Kritik zukommen ließ, eine Antwort die bestätigt dass Nancy nicht nur nicht Biopolitik denken möchte, sondern darüber hinaus ein Problem hat überhaupt Politik zu denken und zu reflektieren, bzw. politisch zu schreiben:

Dear Robert, neither “biology” nor “politics” are precisely determined terms today. I would actually say the contrary. That’s why I have no use for their assemblage. Best regards, Jean-Luc”

Email veröffentlicht durch European Journal of Psychoanalysis 

Das biopolitische Paradigma

Nach der Kritik an Nancy beginnt Esposito nun in aller Kürze eigene Reflexionen zu der momentan alles dominierenden Krise einer globalen Pandemie zu formulieren. Dabei betont er nochmals, warum Biopolitik als Konzept und als Begriff so zentral zu sein scheinen. Denn die Verbindung von Politik und dem biologischen Leben, die Foucault am Begriff der Biopolitik erstmals aufzuzeigen versuchte, ist für Esposito das politische Paradigma der Moderne. Dabei allerdings bedient er sich zwei problematischer Argumente. 

Denn einerseits meint Esposito, dass besonders biotechnologische Entwicklungen jene Bereiche, die einst als „ausschließlich natürlich“ galten immer mehr zu vereinnahmen scheinen und damit die Natürlichkeit, von z.B. Geburt und Tod, verdrängen. Dieses in der Philosophie, besonders der Technikphilosophie, häufig auftretende Argument ist Teil eines Bio-Konservativen Diskurses, der sich gerne im Namen einer konstruierten und willkürlich festgesetzten Natürlichkeit gegen eine zumeist abstrakte und allgemeine Technisierung beruft. Dass Tod oder Geburt, weder jemals „natürlich“, also sozial, technologisch, wissenschaftlich oder politisch unbeeinflusst waren, noch dass es Sinn macht von dem Tod oder der Geburt in einer abstrakten Allgemeinheit zu sprechen, wird in diesen Diskursen gerne ausgeblendet. Wie geboren wurde und wie und wann gestorben wurde, waren immer schon politische Fragen, die auch immer schon von ökonomischen und gesellschaftspolitischen aber auch rassistischen, sexistischen und ableistischen Herrschaftsverhältnissen beeinflusst wurden. Tod, Geburt und vieles dazwischen waren auch immer schon technologische und medizinische Fragen, wie um nur ein Beispiel zu nennen Silvia Federici in ihrem bekannten Werk Caliban und die Hexe nachzeichnet. Über die Frage der „Natürlichkeit“ wird vielleicht noch in einem eigenen Beitrag geschrieben werden müssen.

Zweitens scheint Esposito, ähnlich wie Agamben auch, die momentane Krisensituation ein wenig zu unterschätzen oder gar runterzuspielen. Nie so direkt und plump wie es Agamben macht, aber doch immer wieder quer durch seinen Text mit ganz leichten und eher zwischen den Zeilen verfassten Abschwächungen. Dies wird auch dadurch verstärkt, dass er zwar – wie schon dargestellt – Nancy sehr stark kritisiert, Agamben jedoch nie direkt kritisiert, und wenn indirekt dann maximal mit impliziten halbironischen Bemerkungen. Dennoch bleibt Espositos Text bei weitem auf einem ernsteren und auch philosophisch fundierteren Boden und bedient sich niemals ähnlichen verschwörungstheoretisch anmutenden Theorien, wie es Agamben in seinen Texten zum Coronavirus tut.

It remains a fact that anyone with eyes to see cannot deny the constant deployment of biopolitics. From the intervention of biotechnology on domains that were once considered exclusively natural, like birth and death, to bioterrorism, the management of immigration and more or less serious epidemics, all political conflicts today have the relation between politics and biological life at their core.

Ein, zwei, viele Biopolitiken

Einen enorm wichtigen Aspekt, den Esposito in die Diskussion einbringt ist die Problematik der Vergleichbarkeit. Es gibt nicht die eine Biopolitik und es gibt auch nicht den einen Ausnahmezustand, sondern immer sind viele verschiedene Biopolitiken auch zeitgleich am Werk. Biopolitik beschreibt nämlich einerseits eine generelle und langfristige Entwicklung, andererseits sollen mit diesem Begriff aber auch verschiedene kurzfristigere und konkretere politische Praxen beschrieben werden. Diese Entwicklungen und Politiken sind aber nicht immer vergleichbar. Ähnlich ist es auch mit dem Konzept des Ausnahmezustands. 

But this reference to Foucault in itself should lead us to not losing sight of the historically differentiated character of biopolitical phenomena. One thing is claiming, as Foucault does, that in the last two and half centuries politics and biology have progressively formed an ever tighter knot, with problematic and sometimes tragic results. Another is to assimilate incomparable incidents and experiences. I would personally avoid making any sort of comparison between maximum security prisons and a two-week quarantine in the Po Lowlands.

Hier finden wir noch die direkteste Kritik an Agambens Text bei Esposito, denn genau an der Frage der Zeitlichkeit und was grundlegende Politikparadigma und kurzfristige anlassgebundene Entwicklungen sind, gilt es zu unterscheiden. Das generelle Konzept des Ausnahmezustands ist also auch für Esposito nicht einfach mit der momentanen Situation vergleichbar. Dennoch ist es wichtig wachsam und kritisch zu bleiben über die möglichen nachhaltigen Wirkungen und Überbleibsel der momentanen kurzfristigen Einschränkungen aber auch über das momentan so zahlreich begehrte Verlangen nach diesen Einschränkungen. Dies wird definitiv eine wichtige philosophische Arbeit für die nächsten Monate und Jahre sein.

From the legal point of view, of course, emergency decreeing, long since applied even to cases like this one, in which it is not absolutely necessary, pushes politics towards procedures of exception that may in the long run undermine the balance of power in favour of the executive branch. But to talk of risks to democracy in this case seems to me an exaggeration to say the least. I think that we should try to separate levels and distinguish between long-running processes and recent events.

Medizinisierung der Politik‘ und ‚Politisierung der Medizin‘

Wie Biopolitik genau agiert, und hier schreibt Esposito sehr nahe an Foucault, beschreibt er nochmals gegen Ende seines Textes. Einerseits ist da das Eindringen des „Lebens“ also der Medizin in die Politik, das Leben wird zum Ziel und Handlungsort der Politik. Andererseits ist da jedoch auch das was Esposito die „Politisierung der Medizin“ nennt, etwas was man gerade in der aktuellen Situation einer globalen Pandemie offensichtlich und verstärkt beobachten kann. Was beiden Tendenzen gemeinsam ist, ist die Ausrichtung auf Statistik und Bevölkerungsgruppen und weniger auf den einzelnen Körper. Esposito dazu:

With regard to the former, politics and medicine have been tied in mutual implications for at least three centuries, something that has ultimately transformed both. On the one hand this has led to a process of medicalization of politics, which, seemingly unburdened of any ideological limitations, shows itself as more and more dedicated to “curing” its citizens from risks it is often responsible for emphasizing. On the other we witness a politicization of medicine, invested with tasks of social control that do not belong to it – which explains the extremely heterogeneous assessments virologists are making on the nature and gravity of the coronavirus. Both these tendencies deform politics compared to its classic profile. Also because its objectives no longer comprehend single individuals or social classes, but segments of population differentiated according to health, age, gender or even ethnic group.

Kontrollverslust statt Kontrollstaat?

In den wichtigen und starken Schlussworten des Textes betont Esposito schließlich noch einmal die Frage der Verhältnismäßigkeit. Es ist wichtig, so Esposito, genau und kritisch auf die Entwicklungen zu schauen und diese gegebenenfalls auch jetzt schon zu kritisieren. Der Virus kann kein Freifahrtschein für eine Kontrollgesellschaft sein. Dennoch, so Esposito, scheint die momentane Situation, insbesondere die dramatische Situation in Italien, weniger eine totalitäre Machtübernahme zu sein, als der Zusammenbruch der Strukturen unter der Krise die der Virus aufwirft. 

But once again, with regard to absolutely legitimate concerns, it is necessary not to lose our sense of proportion. It seems to me that what is happening in Italy today, with the chaotic and rather grotesque overlapping of national and regional prerogatives, has more the character of a breakdown of public authorities than that of a dramatic totalitarian grip.

Hier wäre es jedoch auch noch wichtig gewesen klar zu benennen, warum die Krise zu diesem fatalen Zusammenbruch zu führen scheint, warum ganz besonders Italien, aber auch viele andere westliche Staaten vor einem Zusammenbruch des Gesundheitssystems und auch immer mehr der sozialen Situation an sich stehen. Denn solch ein Zusammenbruch, die ‚künstliche‘ Knappheit der nötigen Intensivbetten, die Knappheit an Schutzkleidung für alle Hilfeleistenden und der massive Einkommenseinbruch vieler Menschen ist ein Ergebnis jahrzehntelanger Austeritätspolitik unter neoliberaler Ideologie. Immer und immer wieder wurden Italien und auch andere Staaten gezwungen essentielle Infrastrukturen zu privatisieren, in den Sozialausgaben und dem Gesundheitssystem einzusparen und damit wurde die jetzige fatale Situation aktiv herbeigeführt. Dass in anderen Ländern nun enorme Schuldenpolitik, Aufstockung des Gesundheitssystems und sogar Verstaatlichungen nicht nur möglich erscheinen sondern von den Apologeten des Neoliberalismus, die eben jene Ideologie noch vor zwei Wochen bitter verteidigt und skrupellos durchgesetzt haben, nun sogar selbst durchgeführt wird, diese späte Einsicht hilft den vielen Opfern des Neoliberalismus, deren Opferzahl nicht nur die jetzt vom Coronavirus betroffenen umfasst sondern noch weit darüber hinausgeht, diese späte Einsicht hilft jenen nicht mehr. Aber man muss nun dafür kämpfen dass diese ‚spontane‘ Eingebung über den Wahnsinn des Neoliberalismus nicht bloß eine ereignisgebundene bleibt, sondern sich auf alle politischen Bereiche ausweitet, also eine langfristige und nachhaltige Einsicht wird.

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