Rezension zu Gerald Raunigs “Dividuum”
Rezension: Gerald Raunig (2015): Dividuum. Maschinischer Kapitalismus und molekulare Revolution (Band 1). Wien: transversal texts.
Dieses Buch kann nicht nur in gedruckter Form erworben werden sondern als Ebook und PDF auf der Homepage des Verlages gratis heruntergeladen werden.
Die Individuen sind ‘dividuell’ geworden, und die Massen Stichproben, Daten, Märkte oder ‘Banken’. (Deleuze — Kontrollgesellschaftsaufsatz, 258)
So schreibt Gilles Deleuze in seinem kurzen und viel zitierten Text Postskriptum über die Kontrollgesellschaften von 1990. Das „dividuell“ werden der Individuen soll dabei darauf hinweisen, dass in der Logik der Kontrollgesellschaften Statistiken, Datenbanken, Wahrscheinlichkeiten schlicht all das was wir heute leichtfüßig unter „Big Data“ verstehen vorherrschend sind. Zu jeder Krankheit kann ein Heilungsrisiko ausgerechnet werden, jeder Mensch kann auf seine Kreditfähigkeit berechnet werden, die Produktion von Gütern orientiert sich nicht nur nach simpler Überproduktion von allem sondern auch nach vermeintlich einteilbaren Zielgruppen, für jedes Verhalten und jede Krankheit glaubt man genetische Faktoren finden zu können, jedes Buch das ich bestelle soll etwas darüber aussagen was mich sonst noch interessieren könnte und natürlich kann man all diese Faktoren dann auch noch querrechnen und wenn man lang genug sucht werden sich Korrelationen finden lassen, so der fixe Glauben in Big Data. Der Kontrollgesellschaftsaufsatz weißt auf all das hin und nahm damals schon vieles vorweg was heute völlig alltäglich erscheint. Oft genug wird dabei von Dividuen gesprochen und fast immer wird der obige Satz zitiert, selten jedoch wird dem Begriff des Dividuums tatsächlich ernsthaft nachgegangen. Gerald Raunig hat diese Lücke in seinem neuesten Buch Dividuum. Maschinischer Kapitalismus und molekulare Revolution (Band 1) in umfassender Art und Weise gefüllt und ein vielseitiges spannendes Buch geschrieben, dass nicht bloß den Begriff verortet sondern ihn gleichzeitig in eine ganze politische Philosophie kontextualisiert.
Was heißt „Dividuum“
„Aller Anfang ist dividuell“
So beginnt Gerald Raunig sein Buch das stets zwischen poetisch-theoretischen Teilen und akribisch genauen Analysen wechselt, wobei die Grenzen zwischen diesen Teilen gewollt verschwimmen. Raunig stellt in diesem Buch also ein Wort – Dividuum – ins Zentrum über das man wenig weiß und das doch, wie Raunig zeigt, in vielen Gebieten und bei zahllosen PhilosophInnen eine wichtige Rolle spielt. So bearbeitet Raunig an Hand des Wortes nicht nur etymologische Fragen sondern auch ökologische, anthropologische, technikphilosophische, feministische und natürlich vor allem politische Fragen.
Der Fokus des ersten Teils liegt dabei klar auf einer etymologischen Untersuchung (vgl. 29ff). Wann und in welchem Kontext taucht das Wort auf, welche Bedeutungen hat es und warum wurde seine verneinte Form so viel bekannter und wichtiger? Dividuus bedeutet sowohl geteilt als auch teilbar und das uns nur allzu geläufige Individuum ist dann eben das Unteilbare. Raunig verfolgt dabei die Wortgeschichte von antiken Dramen über scholastische Überlegungen bis hin zu moderner Philosophie, eine sehr spannende Analyse, die hier in keinster Weise nachgezeichnet werden kann. Worauf ‚Raunig jedoch gleich zu Beginn hinweist, ist der sehr explizite Kontext in dem Dividuum als Wort erstmals auftritt.
„Seine ersten Auftritte hat dividuum in den Nachbarschaftszonen von Sklaverei und sexueller Gewalt, zugleich aber in einer streifenden Spur der Flüchtigkeit, die diese überkreuzenden Gewaltverhältnisse flieht, die sich erlaubt, sich (in) die Freiheit zu stehlen. Es sind die vielfach abgestuften Mischungsverhältnisse von extremer sexualisierter Unterdrückung, ökonomischer Abhängigkeit und (im besten Fall) Selbstermächtigung in/aus der Sexarbeit, in denen die Wortgeschichte des dividuum beginnt.“ (30)
Es ist genau dieses Wechselverhältnis aus der Beschreibung der Unterdrückung und der in-Frage-Stellung eben dieser, den Raunig in den späteren Teilen ausbaut und verdeutlicht.
Maschinischer Kapitalismus UND molekulare Revolution
Raunig geht es jedoch um mehr als bloß der etymologischen Begriffsgeschichte und den Verwendungskontexten eines bestimmten Wortes nachzugehen. Es geht ihm auch um mehr als nur darzulegen, dass dieses kleine Wort das immer eine Randexistenz geführt hat, wenig verwendet wurde, ein Wort das immer hinter seiner Verneinung als Individuum verschwunden ist, eben doch wichtiger ist als angenommen, doch mehr Verwendung fand als bekannt ist, doch zentraler in der Philosophiegeschichte ist als man vermuten würde. Vielmehr scheint es Raunig um die Vieldeutigkeit dieses Wortes zu gehen, die es ermöglicht es eben nicht nur im Sinne einer einseitigen Lesart des Kontrollgesellschaftsaufsatzes als Grundlage des „maschinischen Kapitalismus“ zu sehen. Denn wie Raunig darlegt, dient der Dividuum-Begriff nicht bloß zur Kritik an modernen Formen der Herrschaft, des Big Data und des modernen Kapitalismus, der das Individuum eben in Datensätze, Wahrscheinlichkeiten, Vorlieben, usw. zerteilt, sondern es ermöglicht auch neue Formen des Widerstandes gegen eben diese Prozesse zu denken. Es handelt sich eben nicht bloß um einen negativen Begriff, auch Deleuze hat z.B. in seinen Kinobüchern mit verschiedenen Aspekten des Dividuellen gearbeitet. Raunig schreibt dazu, dass es um einen Perspektivenwechsel geht:
„Es ist dann eine Sache der Perspektive, ob man den Begriff des Dividuellen einseitig einsetzt als Beschreibung der neuesten kapitalistischen Transformationen oder ob man ihn auch als vielfältige Komponente aktueller sozialer Kämpfe sieht, die – je nach politischer und theoretischer Positionierung – den kapitalistischen Produktionsweisen vorausgehen oder sich mit ihnen im Handgemenge herumschlagen.“ (241)
Im abschließenden Teil des Buches unternimmt Raunig eben genau diesen Versuch, den emanzipativen Möglichkeiten des Dividuum-Begriffes nachzugehen. Was er vorher in zahlreichen Einschüben und Zwischensequenzen angedeutet hat wird auf diesen letzten Seiten verdeutlicht, eine dividuelle Sicht– und Handlungsweise liegt vielen aktuellen sozialen Kämpfen und Bewegungen zu Grunde. Die dividuelle Sicht ermöglicht uns Bruchlinien, partielle Perspektiven schlicht das was Deleuze und Guattari molekulare Revolutionen und damit verbunden Werdens-Prozesse nennen, zu entdecken. Es geht um „radikale Inklusion“ (vgl. 251), also das akzeptieren und vermehren der Heterogenität, es geht um die Absage an klassische Begriffe von „Gemeinschaft“ (vgl. 241ff) sowie an den starren Glauben an die Notwendigkeit eines „handelnden Subjekts“.
„Dass das Subjekt fehlt, muss aber nicht als Mangel interpretiert werden. Es kann ganz im Gegenteil auch eine neue Qualität der Revolution, von nunmehr molekularer Revolution und von deren Primat der Mannigfaltigkeit anzeigen. Wenn das Subjekt fehlt, steht es nicht einfach aus, als Lücke, die (noch) klafft, um geschlossen zu werden. Für die Komposition einer molekularen Revolution braucht es keine Vereinheitlichung, und auch keine Repräsentation des einheitlichen (Klassen-)Subjekts durch Führer, Partei und Avantgarde.“ (243)
Inwiefern aktuelle soziale Bewegungen dividuell agieren exemplifiziert Raunig an zahlreichen Beispielen und liefert damit spannende ‚Analysen, Kritiken und Interpretationen. Auf seine Analysen zu sozialen Bewegungen wie 15M und Occupy habe ich an anderer Stelle schon mal verwiesen, hier möchte ich besonders seine deleuzianische Lesart der ökologischen buen-vivir–Bewegung hervorheben, die herkömmliche Lesarten um neue interessante Perspektiven erweitert. (vgl. 223ff). Andere spannende dividuelle Lesarten schlägt Raunig für Social Media, insbesondere Facebook (vgl. 149ff), die Subprime Krise (vgl. 177ff) sowie überhaupt für den Schuldenbegriff (vgl. 191ff) vor.
Konklusion
Spannend ist Raunigs Buch also nicht nur auf Grund seiner akribischen etymologischen Untersuchung und der Nachzeichnung der Verwendungsgeschichte des Dividuum-Begriffes, sondern eben noch viel mehr, weil er versucht –ganz deleuzianisch – nicht nur die kapitalistischen und problematischen Seiten des Dividuellen zu besprechen sondern auch sein emanzipatorisches Potential zu entwickeln. Dabei zeigt sich wie gut dieser Begriff mit bekannteren deleuzianischen Begriffen verbunden werden kann.
Die Kritik an Raunigs Buch kann dabei nur eine vorläufige sein, denn was zu wenig dargestellt wurde, was in Anmerkungen und abstrakten Sätzen verbleibt ist die Ausarbeitung einer emanzipativen Theorie des Dividuellen. Doch wie Raunig schreibt ist jeder Anfang dividuell und das Dividuelle immer eine mannigfaltige Mitte, daher ist eine Fortsetzung der Ausarbeitung einer dividuellen Theorie, die per definitionem unabgeschlossen und nur partiell ausgearbeitet bleiben muss um offen für das Neue zu bleiben, nicht nur auf Grund des Hinweises dass es sich hier um den ersten Band handelt offensichtlich.
„Gestische Techniken des Social Forum, alte anarchistische Aktionsweisen, basisdemokratische
Versammlungsformen, das human microphone, ausschwärmende Formen der Demonstration, Techniken der Horizontalität, autonome Praxen des Besetzens von Häusern, Wohnungen, Plätzen und Medien, all dies steht in keinem linearen Verhältnis, das einen Ursprung hier oder da vermuten lässt.
[…]
Mehrere-Werden spielt sich immer in den Dimensionen der Mannigfaltigkeit ab. Die Mehrheit spielt in diesen Dimensionen keine Rolle. Vermehrung und Verbreitung nicht als Addition von einem Individuum zum anderen, sondern vor allem im Modus des Dividuell-Maschinischen.“ (247/8 u. 249/50)