Agamben II: Ausnahmezustand oder schon Verschwörungstheorie

Dies ist der dritte Teil der Coronavirus und die Philosophie Serie. Einen Überblick über die weiteren Teile dieser Blogbeitragsserie gibt es hier.

Wenn es schnelle Kommentare von Philosoph*innen zu aktuellen Ereignissen gibt, so sind diese häufig – wie schnelle Kommentare es oft mit sich bringen – so rasch veraltet wie sie geschrieben, publiziert und über Social Media geteilt wurde. Sollten Kommentare nicht gut altern, sich recht bald oder auch langfristig als falsche, überzogene oder gar lächerliche Fehleinschätzungen erweisen, so ist dies anders als bei Journalist*innen, die in der Zwischenzeit schon wieder unzählige weitere Einschätzungen und Kommentare verfassten, bei Philosoph*innen nachhaltig schädlicher. Kommentare und alle sonstigen Formen von Veröffentlichungen zählen zum Teil des Werkes eines Philosophen oder einer Philosophin und sind daher zumeist auch von einer anderen Zeitlichkeit, werden also auch oft noch viele Jahre später gelesen und zitiert. 

Wie schnell ein aktueller Kommentar als problematisch und outdated, ja sogar als reaktionär und verschwörungstheoretisch wahrgenommen werden kann, zeigt der Kommentar, den der italienische Philosoph Giorgio Agamben zum Coronavirus, bzw. vor allem zur italienischen Reaktion auf den besonders massiven Ausbruch des Coronavirus in Norditalien verfasst hat. Die Fragwürdigkeit des Kommentars zeigt bereits der Titel: The Invention of an Epidemic und zwar ganz ohne Fragezeichen. (Mittlerweile veröffentlichte Agamben einen weiteren Text unter dem Titel ‘Klarstellungen’, mehr dazu hier / Mitte April veröffentlichte Agamben wieder einen neuen, noch problematischeren Text, die Kritik dazu gibt es hier) Im zweiten Teil der Blogpostserie, habe ich ja bereits einige Konzepte aus dem wichtigen Werk von Agamben präsentiert, die im Diskurs über Coronavirus und Pandemie – aber auch in anderen höchst aktuellen Diskursen –  von Relevanz sein könnten. Nun möchte ich mich seinem kurzen aber dafür umso eigenartigeren Kommentar widmen 

“The Invention of an Epidemic” – Seriously?

Agamben publizierte am 26.02.2020 einen Kommentar in der italienischen Zeitung Quodlibet (den Kommentar auf Italienisch kann man hier lesen / die englische Übersetzung des Textes findet sich hier im Europaen Journal of Psychoanalysis).In diesem Text kritisiert Agamben die nach seiner Einschätzung völlig überzogene Reaktion des italienischen Staates auf den Ausbruch des Coronaviruses in Norditalien. Gegen alle Fach- und Exper*innenmeinungen und auch gegen die Berichte und Quellen, die er selbst gleich zu Beginn seines Textes zitiert, stellt Agamben die These auf, dass Covid-19 kaum von den Auswirkungen einer gewöhnlichen Grippe unterschieden werden kann (ein schon Ende Februar klar widerlegter Vergleich), die Maßnahmen daher völlig überzogen seien. Da dieser Virus ja nicht wirklich gefährlich sei, so Agamben in einer Zeit in der bereits seit rund zwei Monaten über diesen Virus berichtet wurde, müsse man fragen, ob die Regierung und die Medien absichtlich Panik verbreiten wollen. Agamben begibt sich damit in das Feld der Verschwörungstheorien. Das Interesse der Massenpanik und Angstmacherei sei, so Agamben, die dadurch nicht groß bekämpfte weitere Ausbreitung und Normalisierung des „Ausnahmezustands“. Dieses Konzept erkläre ich im zweiten Teil dieser Blogreihe näher.

Warum aber, so könnte man fragen, sollte der Staat und die Medien diese – für Agamben so überzogenen – Reaktion auf den Coronavirus einführen und so weit treiben? Agamben sieht vor allem zwei Faktoren, die dafür sprechen. Erstens ermöglicht diese Reaktion auf den Virus ganz schnell den Ausnahmezustand zu erweitern und verfestigen und dies weitgehend unwidersprochen. Agamben vergleicht das Eingreifen hier mit dem so genannten „Kampf gegen den Terrorismus“, in dessen Namen ständig Freiheits- und Bürgerrechte beschnitten wurden und weiterhin werden. Dieser Vergleich ist jedoch nicht nur falsch sondern auch hoch problematisch. Denn nicht nur spielt er die tatsächliche Realität des Viruses herunter, sondern gleichzeitig verwischt er auch damit die seit vielen Jahren und von vielen Seiten klar ausgearbeitete politische Kritik an dem so genannten „Kampf gegen den Terrorismus“. Agamben dazu: 

First and foremost, what is once again manifest is the tendency to use a state of exception as a normal paradigm for government. […] The disproportionate reaction to what according to the CNR [National Research Council] is something not too different from the normal flus that affect us every year is quite blatant. It is almost as if with terrorism exhausted as a cause for exceptional measures, the invention of an epidemic offered the ideal pretext for scaling them up beyond any limitation.

Doch in der Reaktion auf Corona und dem „Kampf gegen den Terrorismus“ handelt es sich nicht nur um unterschiedliche Maßnahmen sondern auch um völlig unterschiedliche politische Interessen, diese einfach zu verwischen ist nicht nur analytisch schwach, sondern politisch gefährlich, weil sie jegliche berechtigte Kritik an den Freiheitseinschränkungen und Überwachungsbemühungen der letzten Jahrzehnte, Einschränkungen die politischen und wirtschaftlichen Interessen dienten, mit den momentanen Reaktionen auf den Virus gleichsetzt.

Der zweite Faktor, so Agamben, sei, dass die Angst vor dem Virus, die für Agamben überzogen und künstlich geschürt sei – man erinnere sich an den Titel des Textes –, nicht nur den Widerstand gegen den Ausnahmezustand verstummen lässt sondern ganz im Gegenteil sogar ein Begehren nach mehr staatlicher Kontrolle erzeugt und damit das Regime des Ausnahmezustands langfristig und nachhaltig festigt. Agamben dazu:

The other no less disturbing factor is the state of fear that in recent years has evidently spread among individual consciences and that translates into an authentic need for situations of collective panic for which the epidemic provides once again the ideal pretext. Therefore, in a perverse vicious circle, the limitations of freedom imposed by governments are accepted in the name of a desire for safety that was created by the same governments that are now intervening to satisfy it.

Dass die tiefgreifenden Maßnahmen rund um die Pandemie die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Räume nachhaltig verändern werden, dass dieser Virus und die Zeit im Ausnahmezustand sich langfristig und nachhaltig in das kollektive Gedächtnis einschreiben wird und finanzielle, psychologische, politische und natürlich gesundheitliche Folgen hat, ist unbestritten. Genau diese Entwicklung könnte auch mit Agambens Theorie gut beschrieben und analysiert werden. Die Möglichkeit einer ernsthaften Analyse nimmt sich Agamben jedoch selbst, wenn er so schnell wie banal seine sorgsam ausgearbeiteten Begriffe, vor allem den Ausnahmezustand, auf alle möglichen politischen Entscheidungen anwendet. Anstatt zu kritisieren, dass der Staat aufgrund von Jahrzehnten der Austeritätspolitik und dem Tot-Sparen des Sozial- und Gesundheitssektors erstens zu spät und zweitens und vor allem nicht ausreichend vorbereitet reagierte, stimmt Agamben lieber in den Chor jener ein, die alles für überzogene Panikmache, ja für eine Erfindung, einen Hoax, Fake News halten. Zumindest tat er dies noch Ende Februar. 

In diesem kurzen wie problematischen Kommentar widmet Agamben sich lieber verschiedenen Verschwörungstheorien, dass der Coronavirus gar nicht so ein Problem sei, dass die Epidemie schlicht erfunden sei, dass die Panik rund um den Virus übertrieben ja sogar bewusst geschürt sei usw., als dass er sich mit den wirklichen politischen Problemen und Fragen, die der Virus und die politischen Reaktionen darauf aufwerfen, auseinandersetzen würde. Keine Rede davon, wer am vulnerabelsten ist, wer nicht geschützt wird, wessen Gehalt aussetzt und nicht ersetzt wird und wer entscheidet welche Intensiv-Kranken eben nicht mehr aufgenommen werden und sterben müssen. Keine Rede davon was mit jenen ist, die schon vor den Maßnahmen der Pandemie im ständigen Ausnahmezustand leben mussten, die in Europa eingeschlossen oder am Rande Europas ausgeschlossen nicht nur dem Virus sondern auch der Willkürlichkeit einer Nekropolitik ausgeliefert sind. An statt sich also mit Fragen von Klasse, Unterdrückung,  Gesundheit, sozialer Verteilung usw. zu beschäftigen, geht es Agamben mehr darum dass er nicht in ein Museum oder ein Café gehen kann. Ein Kommentar also, der allzu schnell veraltet scheint. 

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